Basisgeld oder Mindestlohn

Die gesellschaftliche Diskussion um eine gerechtere Entlohnung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen nimmt Fahrt auf. Immerhin besteht gerade die Möglichkeit, dass einige der Forderungen in den Koalitionsvertrag einfliessen und sich damit die Möglichkeiten zur Umsetzung verbessern.

Im Mai wurde hier schon einmal die Problematik beleuchtet und über eine vom Bundesarbeitsministerium (BMAS) beauftragte Studie berichtet, die vom Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) erstellt werden soll.

Zwischenbericht

Das ISG hat nun einen Zwischenbericht vorgelegt mit dem sperrigen Titel: „Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren
Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“.

Die Studie ist gleichzeitich in Leichter Sprache veröffentlicht worden und heißt dort: „Untersuchungen über die Bezahlung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen„.

Ergebnisse

In der Studie wird zunächst der Ist-Zustand aufgezeigt, die rechtlichen Grundlagen und die noch bestehende Diskrepanz zur UN-Behindertenrechtskommission.

Danach werden drei Modelle vorgestellt und jeweils die Auswirkungen für den Einzelnen und die geamtgesellschaftlichen Kosten bestimmt.

Ist-Zustand

In den Behindertenwerkstätten arbeitende Menschen bekommen, wenn sie zusätzlich zu Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Arbeitsförderungsgeld noch Grundsicherung beziehen, durschnittlich

  • 973 Euro im Monat. (Die Zahlen gelten alle für 2019).

Wenn sie Anspruch auf Erwerbsminderungsrente haben, bekommen sie

  • 1.046 Euro.

Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion

Das Arbeitsförderungsgeld (jetzige Höhe höchstens 52 Euro) soll um

  • 39 Euro

aufgestockt werden. Das bedeutet für den Einzelnen eine minimale Verbesserung der Situation, ansonsten bleibt alles beim Alten. Die Gesamtkosten betrügen

  • 162 Millionen Euro.

Position der Werkstatträte Deutschlands

Dazu ist kürzlich ein Postionspapier der Werkstatträte Deutschland e.V. erschienen: Danach soll durch die Auszahlung eines Basisgeldes zur Gleichstellung dauerhaft voll erwerbsgeminderter Menschen erreicht werden, dass Menschen mit Behinderung mehr Anerkennung und Wertschätzung in der Gesellschaft erfahren. Sie müssen nicht mehr vor Ämtern ihre Konten offenlegen. Sie erhalten genug Geld, um davon leben zu können. Das Basisgeld soll ihnen ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Das Basisgeld zur Gleichstellung dauerhaft voll erwerbsgeminderter Menschen bringt vielen Menschen nicht nur etwas mehr Geld ins Portmonee, sondern gibt ihnen auch das gute Gefühl, respektierter Teil der Gesellschaft zu sein.

Das Basisgeld soll 1.446 Euro betragen. Es soll zusätzlich zum Arbeitseinkommen bezahlt werden. Ein durchschnitllicher Beschäftigter käme dann auf

  • 1.623 Euro im Monat.

Die gesamtgesellschaftlichen Kosten betrügen etwa

  • 2 Milliarden Euro.

Mindestlohn

Den gesetzlichen Mindestlohn auch für die Beschäftigten in den WfbM zu öffnen, fordert unter anderem die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM). Die BAG ist die bundesweite Fachorganisation der Werkstattträger.

Die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns würde bei Vollzeittätigkeit zu einer Erhöhung des verfügbaren Einkommens (einschließlich des Wohngelds) um

  • 8% auf 1.047 Euro pro Monat und bei Teilzeitbeschäftigung um
  • 6% auf 1.025 Euro pro Monat

führen, in diesem Fall allerdings einschließlich ergänzender Grundsicherungsleistungen. Die gesamtgesellschaftliche Zusatzbelastung läge bei dieser Lösung in Höhe von

  • 132 Millionen Euro

mit dem Vorteil einer Gleichbehandlung der WfbM-Beschäftigten mit Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Ein weiterer Gesichtspunkt im Hinblick auf den Wechsel aus einer WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist, dass bei Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns keine Rechtfertigung für die Zahlung von Rentenbeiträgen auf der Grundlage von 80% der Bezugsgröße mehr besteht. Dies könnte die Entscheidung zu einem Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern. Die Abschaffung des Rentenprivilegs würde allerdings auch zu finanziellen Nachteilen führen.

Quellen: BMAS, ISG, Paritätischer Gesamtverband, BAG WfBM, Werkstatträte Deutschlan e.V.

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Rente und Kapital

Gerade geistern durch die Medien die für Rentner erfreulichen Meldungen über eine mögliche kräftige Rentenerhöhung 2022. Mehr dazu können Sie hier erfahren, sobald der Entwurf des Rentenversicherungsberichts 2021 für alle zugänglich ist und nicht nur ausgewählten Medien.

Plant die Ampel Kapitaldeckung?

Die Diskussion um die Finanzierung der Renten ist auch Teil der laufenden Koalitionsverhandlungen. Im Positionspapier von FDP, SPD und Grünen hat die FDP eines ihrer Lieblingsthemen unterbringen können: die Rentenfinanzierung durch das Kapitaldeckungsverfahren.

Schon mal gescheitert

Bei der Einführung der Rentenversicherung 1889 wurde diese als Kapitaldeckungsverfahren gestaltet. Das hatte zur Folge, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Reserven der Rentenversicherung durch die darauf folgende Hyperinflation weitgehend entwertet wurden.  Millionen Rentner standen vor dem Nichts. Das Reinvermögen der Deutschen Rentenbank von 2,12 Mrd. Mark (im Jahre 1914) schrumpfte binnen eines Jahrzehnts auf einen Rest von nur noch 14,6 % der Summe. Als Reaktion darauf begann man, in gewissem Umfang Rentenzahlungen aus eingehenden Beiträgen (d. h. nach dem Umlageverfahren) zu finanzieren, und der Staat half mit Steuermitteln aus. Dennoch waren massive Leistungskürzungen unvermeidlich.

Umlageverfahren setzt sich durch

Von kurzen Perioden abgesehen kam nie eine ausreichende Kapitaldeckung zustande. Insbesondere Inflation und die beiden Weltkriege machten den Versuch zunichte. Daher wurde das Rentensystem auch schon lange vor 1957 faktisch in einer Art Umlageverfahren betrieben.[6] Das System der Kapitaldeckung wurde 1957 in der Rentenreform 1957 unter Konrad Adenauer zu einem Umlageverfahren mit dynamischer Rente umgebaut. Hierdurch wurde es möglich, die ökonomische Situation der Rentner schlagartig zu verbessern.  Das Restkapital der Versicherung wurde in den Folgejahren verzehrt. Bedingt durch den folgenden wirtschaftlichen Aufschwung und den Anstieg der Bevölkerung verstummten in den Folgejahren die Kritiker, die einen Wiederaufbau des Kapitalstocks forderten. 

Auch „Riester“ ohne Erfolg

Seit dem Geburtenrückgang Ende der 60er Jahre wurden die Vor- und Nachteile des Kapitaldeckungsverfahrens wieder verstärkt diskutiert. 2001 wurde mit der „Riester“-Rente wieder teilweise eine kapitalgedeckte Rente eingeführt. Die „Riester“-Rente ist mittlerweile grandios gescheitert.

Keine Notwendikeit für Kapitaldeckung

Anfang November meldete sich der Sozialverband VdK zu Wort. Der VDK lehnt den Einstieg in eine kapitalgedeckte Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung ab, wie sie von verschiedenen Organisationen und Politikern gefordert wird. Es dürfe keine Experimente bei der gesetzlichen Rente geben: Die Finanzierung im Umlageverfahren habe sich entgegen aller Unkenrufe bewährt, betont VdK-Präsidentin Verena Bentele. Aus Sicht des VdK besteht keine Notwendigkeit, eine solche Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung einzuführen.

Grundlegende Reform notwendig

Allerdings sei eine grundlegende Reform bei der privaten Altersvorsorge sinnvoll. Die aktuelle Riesterrente ist gescheitert. Aktuell spart kaum ein Versicherter wie vom Staat erwartet 4 Prozent seines Bruttoeinkommens im Rahmen eines Riestervertrags. „Das Rentenniveau muss darum auf mindestens 50 Prozent, idealerweise 53 Prozent, angehoben und der Riesterfaktor abgeschafft werden. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass die bisherigen Riesterverträge die staatlichen Zulagen erhalten, sie brauchen Bestandsschutz“, so Bentele.

Zweckmäßig ist aus Sicht des Sozialverbands VdK ein transparentes, sicheres und kostengünstiges Basisprodukt, das von der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Gewinnerzielungsabsicht verwaltet wird. Ein solches „Vorsorgekonto“ könnte eine Möglichkeit für Versicherte sein, private Altersvorsorge und staatliche Vorsorge miteinander zu kombinieren, sagte die VdK-Präsidentin.

Appell gegen private Vorsorge

Das Netzwerk Gerechte Rente (ein Zusammenschluss aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dem Paritätischen Gesamtverband, dem Sozialverband VdK Deutschland, dem Sozialverband Deutschland (SoVD), der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands und der Volkssolidarität) plädiert für eine starke, umlagefinanzierte gesetzliche Rente statt individueller privater Vorsorge.

In einem Appell an die Verhandler*innen für eine Ampelkoalition betont das Netzwerk, die gesetzliche Rente sei das Herzstück unseres Sozialstaats. Für Spekulationsgeschäfte sei sie denkbar schlecht geeignet. Statt in die private Versicherungswirtschaft zu investieren, müsse die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt und endlich armutsfest gemacht werden.  Eine Aktienrente, wie die FDP sie fordere, lehne das Bündnis entschieden ab. 

Quellen: Tagesschau, wikipedia,VDK, Paritätischer Gesamtverband

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Keine Befristung beim Persönlichen Budget

Das entsprechende Urteil dazu hat das Bundessozialgericht schon Ende Januar 2021 gesprochen. Trotzdem lohnt sich auch jetzt noch ein Blick auf das Thema „Persönliches Budget“.

BSG-Urteil

Das Bundessozialgericht hatte in seiner Entscheidung (AZ: B 8 SO 9/19 R) festgestellt, dass ein  im Rahmen der Eingliederungshilfe bezahltes persönliches Budget für behinderte Menschen nicht befristet werden darf. Zwar kann alle zwei Jahre der Bedarf des behinderten oder kranken Menschen neu überprüft werden, eine generelle Befristung dieser Unterstützungsform ist aber nicht gesetzlich vorgesehen. Als Folge der Entscheidung müssen Betroffene wegen einer Befristung nicht immer wieder neu einen Antrag für die Eingliederungshilfeleistung stellen.

Dem Urteil voraus ging eine Klage eines psychisch kranken Mannes gegen seinen Sozialhilfeträger. Dieser hatte sein persönliches Budget befristet. So kürzte der Sozialhilfeträger das Budget von ursprünglich 600 Euro monatlich auf 196 Euro und später auf 388 Euro monatlich. Der Kläger hätte zudem nach Ablauf der Bewilligung einen neuen Antrag stellen müssen.

Keine Breitenwirkung

Aus dem Dritten Teilhabebericht der Bundesregierung vom geht hervor, dass das Persönliche Budget insgesamt von den Betroffenen nicht gut angenommen wird. Danach nahmen am Jahresende 2018 insgesamt 10.410 Personen ein Persönliches Budget in Anspruch, die meisten davon (10.090 beziehungsweise 96,9 %) im Rahmen der Eingliederungshilfe. Die Anzahl der Personen, die Leistungen der Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege in Form eines Persönlichen Budgets in Anspruch nahmen, stieg im Vergleich zum Jahr 2014 zwar um 9,9 Prozent, allerdings ergab sich bei jährlichen Schwankungen kein eindeutiger Aufwärtstrend. Am höchsten war die Zahl derjenigen, die ein Persönliches Budget in Anspruch nahmen, im Betrachtungszeitraum im Jahr 2017 (11.543 Personen). Insgesamt war die Zahl der Leistungsbeziehenden gering, eine Breitenwirkung konnte das Persönliche Budget bislang nicht erzielen.

Selbstbestimmung durch Persönliches Budget

Das Persönliche Budget nach § 29 SGB IX ermöglicht Menschen mit Behinderung statt der sonst üblichen Bereitstellung von Dienst- oder Sachleistungen in der Regel über Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, eine Geldleistung als Budget zu erhalten. Dieses zur Verfügung gestellte Budget soll behinderten und hilfebedürftigen Menschen ermöglichen, selbstbestimmt und in eigener Verantwortung Dienst- und Sachleistungen „einzukaufen“. Es ist ein bedeutsamer Unterschied, ob man selbst entscheidet oder andere professionelle Dienstleister regulieren lässt, wie notwendige Unterstützungsleistungen erbracht werden sollen und wer diese Hilfen erbringt. Voraussetzung für diese größere Autonomie und Teilhabe: Im Rahmen eines Bedarfsfeststellungsverfahrens und entsprechenden Zielvereinbarungen mit dem behinderten Menschen, ist – nach Maßgabe einiger im Sozialgesetzbuch genannten inhaltlichen, strukturellen und organisatorischen Vorgaben – dann ein für den individuellen Hilfebedarf erforderliches Persönliches Budget zu bewilligen.

Für viele zu kompliziert

Fast ausschließlich beantragen Menschen mit Körperbehinderung oder mit psychischen Behindeungen das Persönliche Budget. Die Antragstellung ist kompliziert, die Organisation und Handhabung des Budgets im Alltag stellt hohe Anforderungen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die genauso Anspruch auf ein selbstbestimmteres Leben mit Hilfe des Persönlichen Budgets haben, schrecken deswegen oft davor zurück.

Quellen: BSG, Bundesregierung

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Heilmittelbehandlungen per Video

Bisher können Heilmittelbehandlungen wie Sprach- und Ergotherapie – abgesehen von den zeitlich befristeten Corona-Sonderregelungen – ausschließlich in der Praxis der Therapeutin oder des Therapeuten oder im häuslichen Umfeld stattfinden.

G-BA ermöglicht, Kassen verhandeln

Am 21.10.2021 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)  mit einer Änderung der Heilmittel-Richtlinien ermöglicht, dass Heilmittelleistungen zukünftig auch telemedizinisch erbracht werden können. Welche der konkreten verordnungsfähigen Heilmittel hierfür geeignet sind, sollen hingegen der GKV-Spitzenverband und die Spitzenorganisationen der Heilmittelerbringer bis Ende 2021 vertraglich festlegen. Das hatte das „Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege“ vorgegeben.

Bedenken des G-BA

In der Pressemitteilung kritisiert der G-BA dieses Verfahren wegen mangelnder Transparenz. Die sei bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Heilmittelerbringer darüber, welche Heilmittel und welche Therapiesituation für eine Videobehandlung geeignet seien, nicht gegeben. Werde die Videotherapie nicht sachgerecht angewendet, könne es zu schwerwiegenden negativen Effekten in der Patientenversorgung kommen. Genau das könne der G-BA mit seinen Verfahren unter wissenschaftlicher Begleitung verhindern – Vertragsverhandlungen könnten das nicht leisten.

Vorteile

Trotzdem weist der G-BA auf die Vorteile der Videobehandlung hin. Gerade im ländlichen Raum könne die Videobehandlung dazu beitragen, lange Fahrtwege einzusparen.

welche Therapien?

Zu den Therapien, die zukünftig per Video angeboten werden, könnten Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, Ergotherapie, bestimmte Arten der Physiotherapie und Ernährungstherapie. Diese können aufgrund pandemiebedingter Corona-Sonderregelungen des G-BA bis 31. Dezember 2021 schon jetzt als Videobehandlung erfolgen.

Zunächst die Verträge

Die regelhafte Möglichkeit für eine telemedizinische Heilmittelbehandlung besteht, sobald die Beschlüsse zur Änderung der Heilmittel-Richtlinien für die vertragsärztliche und vertragszahnärztliche Versorgung in Kraft getreten sind und der GKV-Spitzenverband mit den Spitzenorganisationen der Heilmittelerbringer entsprechende bundeseinheitliche Verträge geschlossen hat. 

Vereinbarung zwischen Therapeut*in und Patient*in

Sofern keine medizinischen Gründe gegen eine telemedizinische Versorgung sprechen, verständigen sich die Therapeutin oder der Therapeut mit der Patientin oder dem Patienten gemeinsam darüber, ob Behandlungseinheiten auch per Video erbracht werden sollen. Dies ist für beide Seiten freiwillig und ein Wechsel zu einer Behandlung in Präsenz jederzeit möglich.

Quelle: G-BA

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Einmalige Bedarfe im SGB II

Seit Anfang 2021 ist mit dem § 21 Abs.6 im SGB II verankert, dass Hartz IV – Berechtigte nicht mehr nur auf laufende, sondern auch auf einmalige unabweisbare Bedarfe einen Anspruch haben. Zum Beispiel bei der Anschaffung eines digitalen Endgeräts, einer Waschmaschine oder einer Brille.

Weisung der Bundesagentur für Arbeit

Damit kam der Gestzgeber (endlich) einer Forderung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesrats und der Sozial- und Wohlfahrtsverbände nach. Nun hat die Bundesagentur für Arbeit eine Dienstanweisung zu den besonderen Bedarfen herausgegeben. Dort heißt es:

„Bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung für die Anerkennung eines Mehrbedarfs nach § 21 Absatz 6, dass ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Letzteres ist der Fall bei Bedarfen, die nicht vom Regelbedarf erfasst werden. Bei einmaligen Bedarfen, die vom Regelbedarf erfasst sind, kommt dagegen grundsätzlich ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 in Betracht. Dieses kann aber ausnahmsweise nicht zumutbar sein, insbesondere wenn die leistungsberechtigte Person aufgrund eines nicht absehbaren und nicht selbst zu verantwortenden Notfallseinen außergewöhnlich hohen Finanzbedarf hat.
Kurzfristige Bedarfsspitzen (z. B. Waschmaschine, Wintermantel) sind im Regelfall durch ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 auszugleichen.“

Weisungen des BA sind zwar keine Gesetze, aber für alle BA-Mitarbeiter verbindlich. Mit dieser Weisung wird der Anspruch auf einmalige Bedarfe weitgehend ausgehebelt.

Kurz vor der Verfassungswidrigkeit

Harald Thome erklärt dazu in seinem Tacheles-Newsletter vom 24.20.21, die BA versuche mit dieser Weisung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu unterlaufen, welches im zweiten Regelsatzurteil klar und deutlich vorgegeben habe, dass die Regelbedarfe in einer Höhe bemessen sind, die kurz vor der Verfassungswidrigkeit lägen und in dem außerdem vorgegeben werde, dass eine Anspruchsgrundlage für Elektrogroßgeräte, Brillen und einmalige Bedarfe zu schaffen sei (BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL 10/12).

73 Jahre Sparen für eine Waschmaschine

Beispiel Elektrogroßgeräte. In den Regelbedarfen ist für Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspülmaschinen und Bügelmaschinen insgesamt ein Bedarf von 1,60 Euro vorgesehen, für eines dieser 4 Geräte, etwa eine Waschmaschine, also ein Viertel davon, also 40 Cent pro Monat. Der Hartz IV – Bezieher ist angehalten, für eine Neuanschaffung einer Waschmaschine aus dem laufenden Regelsatz Geld anzusparen. Täte er das gewissenhaft, müsste er mit 4,80 Euro im Jahr und bei einem Preis von etwa 350 Euro für eine einigermaßen energiesparende Waschmaschine knapp 73 Jahre lang sparen.

Da dies völlig unrealistisch ist, müsste hier der Mehrbedarfs-Absatz 6 im § 21 greifen. Da die Waschmaschine aber im Regelbedarf aufgelistet ist, kommt nach den aktuellen Weisungen nur ein Darlehen in Frage.

Mit Darlehen unter dem Existenzminimum

Darlehen müssen in der Regel mit 10 Prozent des jeweiligen Regelbedarfs zurückgezahlt werden. Das wären bei einem Bezieher von Regelbedarfsstufe 1 immerhin 44,90 Euro im Monat. Er müsste also von dem Existenzminimum, dass laut Bundesverfassungsgericht knapp an der Verfassungswidrigkeit vorbeischrammt, monatelang in anderen Bereichen einsparen. Vielleicht bei der Ernährung der Kinder?

Wenn ein einmaliger Bedarf nicht in der Regelbedarfsauflistung abgebildet ist, ist laut Gesetz „ein Darlehen wegen der Art des Bedarfs nicht möglich“. Wie dann zu verfahren ist, daüber steht in der Weisung kein Wort.

angeordneter Rechtsbruch

Harald Thome dazu: „Aus meiner Sicht wird mit der Weisung Rechtsbruch angeordnet.“

Quellen: Bundesagentur für Arbeit, Tacheles e.V.

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Zusatzbeitrag 2022

Das im September verabschiedete Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) beinhaltet mit der Einfügung des § 221a Abs.3 einen weiteren 7 Milliarden schweren Bundeszuschuss an den Gesundheitsfond. Damit soll ausdrücklich der durchschnittliche Zusatzbeitrag der Krankenkassen stabil auf

  • 1,3 Prozent

gehalten werden.

Schätzerkreis macht Pause

Normalerweise ermitteln die Expertinnen und Experten von Bundesgesundheitsministerium, Bundesamt für Soziale Sicherung und GKV-Spitzenverband (Schätzerkreis) die erwarteten Einnahmen und Ausgaben der GKV und aus der so ermittelten Differenz ergibt sich der rechnerische durchschnittliche Zusatzbeitragssatz für das jeweilige Folgejahr. Für das Jahr 2022 ist der Zusatzbeitrag aber schon gesetzlich festgelegt.

Kassenindividueller Zusatzbeitrag

Ein stabiler durchschnittlicher Zusatzbeitrag bedeutet für die einzelnen Kassen nicht zwingend, dass die Beiträge ebenfalls stabil bleiben. Die Höhe des Zusatzbeitragssatzes regelt jede Krankenkasse individuell in ihrer Satzung, eine Obergrenze ist nicht vorgesehen. Die Höhe der Zusatzbeiträge aller Krankenkassen kann man in der Krankenkassenliste nachschlagen.

Durchschnittlicher Zusatzbeitrag

Für bestimmte Personenkreise wird der Zusatzbeitrag anstatt in Höhe des kassenindividuellen Zusatzbeitragssatzes obligatorisch in Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes erhoben. Er gilt für nachfolgende Personengruppen, deren Beiträge von Dritten getragen werden:

  • Versicherungspflichtige Empfänger von Arbeitslosengeld II;
  • Jugendliche, die sich in berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen in einer Einrichtung der Jugendhilfe auf einen besseren Einstieg in das Berufsleben vorbereiten;
  • Teilnehmer an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie an beruflichen Eingliederungs- und Erprobungsmaßnahmen;
  • Auszubildende, die in einer außerbetrieblichen Einrichtung im Rahmen eines Berufsausbildungsvertrages nach dem Berufsbildungsgesetz ausgebildet werden;
  • behinderte Menschen in anerkannten Werkstätten, Einrichtungen etc., wenn das tatsächliche Arbeitsentgelt den nach § 235 Abs. 3 SGB V maßgeblichen Mindestbetrag (2022: mtl. 658 EUR West und 630 EUR Ost) nicht übersteigt;
  • Bezieher von Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld während einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme;
  • Arbeitnehmer, deren Mitgliedschaft bei einem Wehrdienst fortbesteht;
  • Auszubildende, die monatlich nicht mehr als 325 EUR Arbeitsentgelt erhalten, auch dann, soweit die Geringverdienergrenze ausschließlich durch eine Sonderzahlung überschritten wird, sowie
  • Teilnehmer an einem gesetzlich geregelten freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahr oder am Bundesfreiwilligendienst.

Beitragszuschuss

Der durchschnittliche Zusatzbeitrag wird auch beim Beitragszuschuss für privat krankenversicherte Arbeitnehmer berücksichtigt. Für diese ist der Betrag zu zahlen, der sich bei Anwendung der Hälfte des allgemeinen Beitragssatzes zzgl. des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes ergibt, maximal bis zur Hälfte des tatsächlichen Beitrags.

Quellen: BMAS, GKV, Haufe

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Sachbezugswerte 2022

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den Entwurf der Verordnung zur Änderung der Sozialversicherungsentgeltverordnung vorgelegt. Sachbezugswerte sind bei der Berechnung der Beiträge und Leistungen der Sozialversicherung zu berücksichtigen. Dazu zählen beispielsweise freie Unterkunft, freie Verpflegung und andere Waren- und Dienstleistungen. Die Rechtsverordnung legt fest, welche Werte dafür in der Entgeltabrechnung angesetzt werden.

Das BMAS folgende Sachbezugswerte bekannt gegeben:

  • Der Sachbezugswert für Verpflegung soll bundeseinheitlich auf 270 Euro monatlich steigen (2021: 263 Euro).
  • für ein Frühstück 1,87 Euro (2021: 1,83 Euro)
  • für ein Mittag- oder Abendessen 3,57 Euro (2021: 3,47 Euro)
  • Der Sachbezugswert für freie Unterkunft soll bundeseinheitlich auf 241 Euro monatlich (2021: 237 Euro). (Der Wert der Unterkunft kann auch mit dem ortsüblichen Mietpreis bewertet werden, wenn der Tabellenwert nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre).

Bei der Belegung einer Unterkunft mit mehreren Beschäftigten sowie für Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und Auszubildende gelten andere Werte. Diese ergeben sich aus § 2 Abs. 3 Sozialversicherungsentgeltverordnung: Der Wert der Unterkunft vermindert sich

  • bei Aufnahme des Beschäftigten in den Haushalt des Arbeitgebers oder bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft um 15 Prozent,
  • für Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und Auszubildende um 15 Prozent und
  • bei der Belegung
    a) mit zwei Beschäftigten um 40 Prozent,
    b) mit drei Beschäftigten um 50 Prozent und
    c) mit mehr als drei Beschäftigten um 60 Prozent.

Die amtlichen Sachbezugswerte werden jährlich an die Entwicklung der Verbraucherpreise angepasst.

Der Entwurf zur Änderung der SvEV muss noch vom Bundeskabinett beschlossen und im Bundesrat verabschiedet werden. Dass sich die Werte noch ändern, ist erfahrungsgemäß nicht zu erwarten.

Quelle: BMAS, Haufe

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Mutterschutz

Mutterschutz ist in vielen Teilen der Welt keine Selbstverständlichkeit. Die USA hat beispielsweise als einziges Industrieland keinen Mutterschutz. In den meisten Ländern Afrikas ist es üblich, dass Frauen direkt nach der Geburt die Arbeit wieder aufnehmen. Nur selten gibt es gesetzliche Regelungen, die einen Mutterschutz vorsehen. In den meisten europäischen Ländern ist der Mutterschutz geregelt, vor allem osteuropäische Länder gewähren oft eine lange Zeit Mutterschaftsurlaub.

Kein angemessener Rechtsschutz

Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erhalten weltweit rund 830 Millionen arbeitende Frauen keinen angemessenen Rechtsschutz – 80 Prozent von ihnen leben in Afrika und Asien. Laut der ILO hat das in vielen Fällen zur Folge, dass Arbeitgeber zögern, schwanger Frauen anzustellen, zu befördern oder ihren Job zu garantieren. Oftmals kann das auch bedeuten, dass Frauen im gebärfähigen Alter gar nicht erst angestellt werden.

Übereinkommen 183

Die Internationale Arbeitsorganisation ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen und damit beauftragt, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern. Im Jahr 2000 wurde von der ILO das Übereinkommen Nr. 183 verabschiedet und bislang von 38 Staaten ratifiziert.

Es zielt darauf ab, durch umfassende Regelungen über den Mutterschutz die Gleichstellung aller erwerbstätigen Frauen sowie den Gesundheitsschutz und die Sicherheit von Mutter und Kind weltweit zu fördern, während gleichzeitig die unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Mitgliedstaaten berücksichtigt wird.

Inhaltliche Schwerpunkte

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Übereinkommens sind:

  • Der Gesundheitsschutz und die ärztliche Betreuung von Mutter und Kind,
  • der Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen mit einer Geldleistung von mindestens zwei Dritteln des bisherigen Arbeitsentgelts der Frau,
  • der Kündigungsschutz,
  • das Rückkehrrecht zur selben oder gleichwertigen Arbeit sowie
  • das Verbot der Diskriminierung der Beschäftigten wegen einer Schwangerschaft oder Stillzeit.

Deutschland ratifiziert

Deutschland hat am 30.9.2021 das ILO-Übereinkommen Nr. 183 über den Mutterschutz ratifiziert. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention 183 über den Mutterschutz vollzieht die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit, die in Deutschland im Mutterschutzgesetz bereits geregelt ist. 14 Wochen Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub ist im europäischen Vergleich allerdings der Mindestschutz für werdende und stillende Mütter.

Quellen: BMAS, ILO, Deutschlandfunk, Tagesschau

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LongCOVID

Long-COVID ist ein neuartiges Krankheitsbild, das mit Langzeitfolgen nach einer SARS-CoV-2-Infektion einhergeht. Die Neuartigkeit der Erkrankung bedingte, dass zunächst keine wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt oder verfügbar waren. Im Versorgungssystem fehlten so wesentliche Informationen über das therapeutische Vorgehen. Bei den Betroffenen führte dies zu erheblichen Belastungen. Inzwischen wurde in Forschung, Versorgung und Information bereits eine Vielzahl von Maßnahmen umgesetzt, um die Long-COVID-Erkrankten und ihre Angehörigen zu unterstützen und gut zu versorgen.

Interministerielle Arbeitsgruppe

Im Hinblick auf öffentlich diskutierte weitere Handlungsbedarfe wurde unter Vorsitz des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eine Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) „Long-COVID“ eingesetzt. Diese IMA hat gemeinsam mit zahlreichen Expertinnen und Experten Empfehlungen für Maßnahmen herausgearbeitet, durch die insbesondere Forschung sowie Information von Betroffenen, Bevölkerung und Gesundheitspersonal zu LongCOVID vorangetrieben und eine gute akut- und rehabilitationsmedizinische Versorgung der Betroffenen sichergestellt werden soll.

Bericht zum Stand der Forschung

Ende September legte die Interministeriellen Arbeitsgruppe Long-COVID einen Bericht vor zum Stand der Forschung und mit Empfehlungen für alle AKteure im Gesundheitsbereich.

Die Empfehlungen:

  1. Die Datenlage zu Long-COVID muss in allen Bereichen der Krankheitsbeschreibung und Epidemiologie erweitert werden. Dies schließt eine kontinuierliche Beobachtung der Krankheitshäufigkeit, -verläufe und -verteilung ein.
  2. Die Datenlage zu Long-COVID in der Public Health-Forschung und der Versorgungsforschung muss ebenfalls weiter verbessert werden. Dies betrifft insbesondere auch die Forschung zu gefährdeten Gruppen, zu Kindern und Jugendlichen und Versorgungsoptionen.
  3. Die Versorgungslage mit spezialisierten Versorgungsangeboten bei komplexer Long-COVID-Erkrankung sollte überprüft und bei Bedarf ergänzt werden.
  4. Die vorhandenen akuten und rehabilitativen Versorgungsangebote für die Behandlung von Long-COVID sollten im Gesundheitswesen und bei den Betroffenen bekannter gemacht werden.
  5. Die vorhandenen Instrumente für eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben (z.B. stufenweise Wiedereingliederung, Belastungserprobung) sollten im Gesundheitswesen und bei den Betroffenen bekannter gemacht und verstärkt bei längerdauernden Long-COVID-Krankheitsverläufen angewendet werden.
  6. Die vorhandenen Informationen über Long-COVID sollten gebündelt und im Internet gut zugänglich und leicht auffindbar gestaltet werden. Sie richten sich an Long-COVID-Erkrankte und ihre Angehörigen, das Gesundheitspersonal und die Allgemeinbevölkerung.

Bestandsaufnahme dei Quarks

Eine umfassende und gut verständliche Bestandsaufnahme zu Long-COVID gibt es auch bei quarks.de mit einer Link-Liste zu vielen bisher veröffentlichten Studien zu dem Thema.

Quellen: Bundesministerium für Gesundheit, Quarks.de

Abbildung: pixabay.com RobinHiggins

Holprige Digitalisierung

Neulich erschien im Spiegel eine Kolumne von Sascha Lobo unter dem Titel: „Deutschland ist das digitale Schilda“. Der Autor beklagt sich augenzwinkernd darüber, dass man als Normalbürger kaum den Überblick über die vielen gescheiterten Digitalprojekte in Deutschland behalten könne. Als ein Beispiel dafür nennt er die versuchte Einführung des E-Rezepts.

Einführung abgesagt

Patienten sollen elektronische Rezepte auf ihr Smartphone laden und in einer Apotheke einlösen können. Die dazu nötige App sollte als Teil der Telematikinfrastruktur ab 1.10. 2021 zur Verfügung stehen. Ab 2022 ist die elektronische Verordnung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der Telematikinfrastruktur verpflichtend vorgegeben. Einen Tag vor der geplanten Einführung, am 30.9.2021 teilte die zuständige Firma Gematik mit, dass die Einführung verschoben werde.

Schildbürgerstreich

Sascha Lobo schreibt dazu: „…die verantwortliche Firma Gematik, die zu 51 Prozent dem Bundesgesundheitsministerium und ansonsten allen möglichen Gesundheitsverbänden wie der Bundesärztekammer oder der Kassenärztlichen Vereinigung gehört, hat einen Tag davor den Start abgesagt. Sicher nur Zufall, dass das erst in der Woche nach der Wahl bekannt gegeben worden ist. Besonders schildbürgerisch ist dabei, dass die Bundesregierung eine gesetzliche Pflicht zum E-Rezept bis spätestens 1. Januar 2022 festgeschrieben hat – aber ob der Termin gehalten werden kann, ist natürlich völlig unklar.“

Testphase verlängert

Die Gesellschafterversammlung der Firma Gematik teilte mit, dass die seit Juli laufende Testphase in einigen Praxen, Kliniken und Apotheken in Berlin und Brandenburg bis Ende November verlängert wird. Fest stehe aber weiterhin, dass im Januar 2022 die Einführungspflicht greife – dann sollten gesetzlich Versicherte für ihre Rezepte QR-Codes bekommen statt rosa Zettelchen. Grund für die Planänderung sei, dass viele Arztpraxen noch gar nicht die technische Möglichkeit hätten, Digitalverschreibungen auszustellen: Es mangele an zertifizierten Updates für ihre Praxisverwaltungssysteme. In Deutschlands Arztpraxen gäbe es eine Vielzahl an verschiedenen digitalen Verwaltungssystemen, insgesamt etwa 130. Zudem machten noch zu wenige Krankenkassen bei dem E-Rezept der Gematik mit, als dass eine flächendeckende Einführung aussichtsreich wäre. In den kommenden Wochen solle sich die Situation verbessern.

Bedenken von Ärzten und Apothekern

Ob sich in den nun gewonnenen paar Wochen Entscheidendes ändert, ist aber ungewiss. Ärztevertreter forderten schon eine Verschiebung der Einführung. Viele Vor-Ort-Apotheker befürchten zudem, dass sie Geschäft an den Online-Versand verlieren könnten. Die großen Online-Konkurrenten DocMorris und Shop Apotheke wittern hingegen Morgenluft, wenn sie künftig die Rezepte digital übermittelt bekommen und das Arzneimittel dadurch schneller beim Kunden ist als bisher – derzeit bekommen die Online-Händler die Verschreibung noch per Brief.

Zettelwirtschaft beenden

Mit dem E-Rezept soll die Zettelwirtschaft bei Rezepten beendet werden – derzeit bekommen gesetzlich Versicherte jedes Jahr etwa 500 Millionen Verschreibungen. Ab nächstem Jahr sollen sie einen QR-Code erhalten, entweder im Smartphone oder – falls man die Gematik-App «E-Rezept» noch nicht nutzt – ausgedruckt. Der Zugriff auf die Digitalverschreibung über die App kann praktisch sein, etwa wenn man eine Videosprechstunde wahrgenommen hat und der Arzt danach kein Papierrezept per Post zuschicken muss. Ganz verschwinden werden die Papierrezepte aber nicht, zum Beispiel bei Hausbesuchen soll es sie weiterhin geben. Für privat Versicherte gilt das Digitalrezept nicht.

Einführung erst nach und nach

In anderen EU-Staaten, insgesamt 17, gibt es das E-Rezept schon, das von der Bevölkerung gut angenommen werde, so Gematik-Chef Markus Leyck Dieken. Er wies auch gleichzeitig darauf hin, dass das E-Rezept, selbst wenn es beim 1.1.2022 als Starttermin bleibe, erst nach und nach zur Verfügung stehen werde. Bis in de Arztpraxen und Apotheken überall die technische Ausstattung vorhanden ist, kann es also noch dauern.

BER des Gesundheitssystems

Ähnliches passierte auch bei der geplanten Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zum 1.1.2006, die immer wieder verschoben wurde. Die eKG gelte manchen als „Berliner Flughafen des Gesundheitssystems“ (Sascha Lobo). Die gesetzliche Grundlage für den eigentlichen Zweck der eGK, nämlich die Einführung der „elektronischen Patientenakte“ wurde im Sommer 2021 festgelegt.
Das hat 15 Jahre gedauert.

Quellen: Haufe.de, Spiegel, wikipedia

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