BAFöG-Reform 2024

Studienstarthilfe und Flexibilitätssemester: Das sind Begriffe aus der kommenden BAFöG-Reform. Der Referentenentwurf dazu liegt vor. Die schlechte Nachricht zuerst: Eine Eine Erhöhung des BAföG-Sätze ist nicht vorgesehen. Damit würde das BAföG mindestens drei Jahre ohne Erhöhung bleiben, wahrscheinlich sogar vier, denn 2025 dürfte es wegen der Bundestagswahlen gar keine BAföG-Anpassung geben. Offenbar ist die FDP-Bildungsministerin der Ansicht, Student*innen seien von steigenden Preisen und Inflation nicht betroffen.

Keine Erhöhung der Bedarfsätze

Über eine Anpassung der BAföG-Sätze berät der Bundestag am Mittwoch, 17. Januar 2024. Den Abgeordneten liegt dazu der „Dreiundzwanzigste Bericht nach Paragraf 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach Paragraf 21 Absatz 2“ (20/9870) als Unterrichtung vor. Er umfasst die Jahre 2021 und 2022, wie aus der Vorlage hervorgeht. Nach 40-minütiger Debatte ist die Überweisung an den federführenden Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgesehen.

Laut Gesetz sind „die Bedarfssätze, Freibeträge sowie die Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach Paragraf 21 Absatz 2 alle zwei Jahre zu überprüfen und durch Gesetz gegebenenfalls neu festzusetzen. Dabei ist der Entwicklung der Einkommensverhältnisse und der Vermögensbildung, den Veränderungen der Lebenshaltungskosten sowie der finanzwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen. Die Bundesregierung hat hierüber dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat zu berichten“.

Preisentwicklung im Blick behalten

In den Berichtszeitraum fällt den Angaben zufolge ein Gesetz zur Zahlung einer einmaligen Energiepreispauschale in Höhe von 200 Euro für Studenten, Fachschüler und Berufsfachschüler. Die entsprechende Rechtsgrundlage trat zum 21. Dezember 2022 in Kraft. Mehr als 3,55 Millionen Antragsberechtigte an mehr als 4.500 Ausbildungsstätten konnten die Einmalzahlung nach einer Pilotphase ab dem 28. Februar 2023 und bundesweit ab dem 15. März und bis zum 2. Oktober 2023 beantragen. Es wurden dem Bericht zufolge rund 2,84 Millionen Anträge bewilligt und insgesamt mehr als 568 Millionen Euro ausgezahlt.

Der Bericht empfiehlt nicht ausdrücklich eine Erhöhung der BAFöG-Sätze, sondern empfiehlt, „das Spannungsverhältnis zwischen gestiegenen Verbraucherpreisen, der finanzwirtschaftlichen Gesamtentwicklung und dem Vertrauen in ein bedarfsgerechtes BAföG als selbstverständliche Rahmenbedingung für Ausbildungsentscheidungen andererseits im Blick zu behalten.“

Klage läuft

Ob das BAföG in seiner aktuellen Form gegen das Grundgesetz verstößt, prüft zur Zeit das Bundesverfassungsgericht. Die anstehende BAFöG-Reform kostet laut Bildungsministerium 62 Millionen Euro. Der Haushaltsauschuss hatte dafür ursprünglich 150 Millionen vorgesehen. Dann wäre ja noch Spielraum,sollte es zu einer Klatsche aus Karlsruhe kommen.

Was bringt die BAFöG-Reform sonst?

  • Einführung eines Flexibilitätssemesters, das jedem Studierenden einmalig die Möglichkeit gibt, ohne Angabe von Gründen über die Förderungshöchstdauer hinaus für ein Semester gefördert zu werden,
  • Verschiebung der Frist für die förderungsunschädliche Vornahme eines Fachrichtungswechsels aus wichtigem Grund und Erweiterung der Regelvermutung für das Vorliegen eines wichtigen Grundes um jeweils ein Semester,
  • Einführung einer Studienstarthilfe. Der einmalige Zuschuss zum Studienstart soll jungen Menschen aus finanzschwachen Familien einen Anreiz zur Studienaufnahme geben und finanzielle Hürden beim Übergang in ein Hochschulstudium abbauen.
  • Die Anhebung der Freibeträge, die für Leistungen nach dem BAföG gelten, sowie der
    Freibeträge für die Rückzahlung des Darlehensanteils um fünf Prozent. Der Freibetrag für eigenes Einkommen der Auszubildenden wird so angepasst, dass die ab dem 1. Januar 2025 geltende Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Absatz 1a SGB IV berücksichtigt ist und Auszubildende damit ohne Anrechnung auf ihre Förderung bis zum Umfang eines sogenannten Minijobs einer ausbildungsbegleitenden Erwerbstätigkeit nachgehen können.

Außerdem werden die Kranken- und Pflegeversicherungszuschüsse an Veränderungen der Beitragssätze und der Bemessungsgrundlagen angepasst und dabei auch der für 2024 geltende Durchschnittswert für den kassenindividuellen Zusatzbeitrag berücksichtigt.

Quellen: Studis online, BMBF, Bundestag, FOKUS-Sozialrecht

Abbildung: bafoeg-digital.jpg (Startseite des online-portals BAFöG-Digital)

Zurück zu Hartz IV

Bundesarbeitsminister Heil sieht sich genötigt beim Bürgergeld eine Rolle rückwärts zu machen. Vorausgegangen war eine beispiellose Fakenews-Kampagne, dass sich arbeiten nicht mehr lohne, weil das Bürgergeld so hoch sei und es keine Sanktionen mehr gäbe. Schon zu Beginn des letzten Jahres wurden solche hauptsächlich von der AFD verbreiteten Märchen widerlegt. Trotzdem ließen es sich einige CDU und FDP Politiker nicht nehmen, weiter in die Kerbe zu hauen, begleitet von den üblichen Verdächtigen aus der Medienwelt.

Lernfähigkeit?

Nun versucht die SPD, wie auch schon in anderen Politikbereichen wie der Migrationspolitik, angesichts dürftiger Umfrageergebnisse zum xten Mal Wähler zurückzuholen, in dem man auf die Positionen des rechten Randes umschwenkt. Zum xten Mal wird dies nicht funktionieren. Die Lernfähigkeit scheint völlig verschwunden zu sein.

170 Millionen

Hubertus Heil will also das Haushaltsgesetz 2024 mit einem Passus zu Einsparungen aus seinem Haus ergänzen. 170 Millionen sollen es sein, in dem die vom Verfassungsgericht für unzulässig erklärten Vollsanktionen wieder eingeführt werden. Das wären etwa 100.000 Vollsanktionen im Jahr.

Zum Vergleich: der jährliche Gesamtwirtschaftliche Schaden durch Steuerhinterziehung beträgt etwa 100.000.000.000 (100 Milliarden) Euro.

Dünnes Eis

Der Arbeitsminister bezieht sich auf einen Passus des Verfassungsgerichtsurteils, in dem es heißt, „wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern,“ sei ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen. Allerdings sagt das Urteil einschränkend, dies sei nur dann möglich, wenn deren Situation mit denen vergleichbar seien, bei denen keine Bedürftigkeit vorliege, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sei. Nur wenn eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund willentlich verweigert werde, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, sei ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.

Da werden die geplanten Einsparungen sicher schnell durch die Gerichtskosten aufgebraucht.

Lesenswert dazu auch der Beitrag von Dr. Joachim Rock, Leiter der Abteilung „Arbeit, Soziales und Europa“ beim Paritätischen Gesamtverband.

Quellen: tacheles e.V., BMAS, Tagesschau, dpa, Bundesverfassungsgericht

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Kritik am Klimaschutzgesetz

„Keine Verschiebung von Reduktionslasten in die Zukunft und damit auf die nachfolgenden Generationen“ war ein Kernsatz des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 29. April 2021. Darauf wies Roda Verheyen, Vorstand von Green Legal Impact und Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts bei der Sachverständigen-Anhörung am 8. November 2023 zur geplanten Änderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes hin.

Belastung der nachfolgenden Generationen

Genau diese Verschiebung der Lasten passiere aber nun mit der geplanten Novelle. Die auf Vorschlag der SPD geladenen Expertin appellierte an die Abgeordneten: „Es ist zwingend erforderlich, dieses Gesetz so nicht anzunehmen.“ Zu dem gleichen Ergebnis kam Thorsten Müller, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Umweltenergierecht, der ebenfalls auf Vorschlag der SPD eingeladen war.

Aufhebung der Sektorenziele

Kern der Novelle des Klimaschutzgesetzes ist die Aufhebung der Sektorenziele, so dass nun nur noch die Jahresemissionsgesamtmengen für alle Sektoren zusammen bewertet werden und gegebenenfalls für Nachbesserungen sorgen sollen. Dies entlastet vor allem das Verkehrsministerium, dass seine Sektorenziele bisher krachend verfehlt hat.

Klimablockadepolitik

Das Klimaschutzgesetz sei „nicht ansatzweise mit der 1,5 Grad-Grenze kompatibel, sagte Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Mit dem Gesetz gehe es offenbar darum, “säumige Ministerien vor schlechter Presse zu schonen und Klimablockadepolitik in Schlüsselsektoren wie dem Verkehr in einer mehrjährigen Gesamtrechnung„ zu verstecken. Müller-Kraenner, der auf Einladung der Linken-Fraktion Stellung nahm, sprach von drohender “Verantwortungsdiffussion„. Ähnlich sah das Tobias Pforte-von Randow vom Deutschen Naturschutzring. Der vorliegende Gesetzentwurf diene lediglich der Verschleierung ungenügender Klimaschutzbemühungen sagte der Experte, der auf Einladung der Grünen-Fraktion sprach.

Keine Aufweichung der Sektorziele

Kerstin Andreae vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sprach sich dezidiert gegen eine Aufweichung der Sektorziele aus und plädierte für eine Beibehaltung der derzeitigen Methodik, die eine gezielte Anreizwirkung zur Senkung der Treibhausgasemissionen in den Sektoren habe. Dazu führte die Expertin, die auf Einladung der Grünen-Fraktion an der Anhörung teilnahm, aus, dass zur Vermeidung von Zielabweichungen die Verrechnung von Über- und Untererfüllungen nur bis zu einer bestimmten Grenze zugelassen werden sollte.

gemeinsame Verantwortung der Regierung

Eine andere Meinung hat der von der CDU eingeladene Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina/Nationale Akademie der Wissenschaften, Gerald Haug. Er nannte die sektorübergreifende Klimaschutzpolitik genauso richtig wie die daraus folgende gemeinsame Verantwortung der Regierung.

Langfristige und strukturelle Maßnahmen unzureichend

Michael Pahle vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sagte, der Reformbedarf für das Klimaschutzgesetz bestehe, weil dessen Steuerungsmechanismen zwar hohe Verbindlichkeit und Flexibilität aufwiesen, „aber an den jeweils falschen Stellen“. Jahresscharfe sektorale Emissionsminderungsziele und die Zuweisung von sektoraler ministerieller Verantwortlichkeit schafften eine Vielzahl von politischen Interventionspunkten – vor allem bei der Ausgestaltung der Sofortprogramme, die bisher das zentrale Instrument der Nachsteuerung seien. Es sei jedoch mehr als fraglich, ob dies auch zu höherer langfristiger Glaubwürdigkeit führe. „Denn Sofortprogramme schließen Lücken, die in der Regel überhaupt erst entstehen, weil die langfristigen und strukturellen Maßnahmen unzureichend sind“, sagte Pahle, der auf Einladung der FDP sprach.

Teure Zukunft

Verkehr und Gebäude seien die Sektoren, die schon in der Vergangenheit ihre Ziele nicht erreicht hätten, sodass man nach europäischen Regeln Emissionszertifikate mit deutschem Steuerzahlergeld zukaufen musste, erklärte Christoph Bals von Germanwatch, der auf Einladung der Unionsfraktion sprach. Das werde zukünftig aber viel teurer, sagte Bals. Abschätzungen gingen von bis zu zweistelligen Milliardenbeträgen aus. Eventuell drohten EU-Vertragsverletzungsverfahren und Strafzahlungen. Eine fehlende Strategie im Verkehrs- und Gebäudebereich wäre daher “grob fahrlässig„, so Bals.

Finanzausstattung der Kommunen

Am bestehenden Monitoring und Kontrollmechanismus sowie der Pflicht, innerhalb von drei Monaten ein Sofortprogramm zur Nachsteuerung vorzulegen, müsse festgehalten werden, forderte auch Tim Bagner vom Deutschen Städtetag, der auf Einladung gemäß einer Regelung der Geschäftsordnung des Bundestags zur Teilnahme von Vertretern kommunaler Spitzenverbände an Anhörungen sprach. Wie Bagner und Nadine Schartz vom Deutschen Landkreistag forderte Alexander Kramer vom Deutschen Städte- und Gemeindebund Bund und Länder auf, für eine langfristige und hinreichende Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen.

soziale Akzeptanz

Leon Krüger vom DGB, der auf Einladung der SPD-Fraktion sprach, unterstrich das Anliegen des Gewerkschaftsbundes, dass es für die ökonomisch ausgewogene Flankierung wie auch die soziale Akzeptanz der Klimaschutzmaßnahmen unerlässlich sei, die Bevölkerung über ein Klimageld zu entlasten und so klimaschutzbezogene Mehrbelastungen zu kompensieren“.

Quellen: Bundestag, Bundesregierung, Bundesverfassungsgericht

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PV-Beiträge: es wird kompliziert

Die von der Bundesregierung vorgelegte Pflegereform hat im Bundestag zu einer kontroversen Grundsatzdebatte über die langfristige Organisation und Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung geführt. Es fand am Donnerstag die erste Lesung des Gesetzentwurfs statt.

Erhöhung des Beitragssatzes

Die Ampelkoalition will mit der Pflegereform die Pflegebedürftigen entlasten und die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung stabilisieren. Der Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sieht  zum 1. Juli 2023 eine Anhebung des Pflegebeitrags um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent vor. Das soll Mehreinnahmen in Höhe von rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Der Arbeitgeberanteil liegt paritätisch bei 1,7 Prozent. Die Bundesregierung soll außerdem dazu ermächtigt werden, den Beitragssatz künftig durch Rechtsverordnung festzusetzen, falls auf einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf reagiert werden muss.

Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022 zugunsten einer besseren Berücksichtigung der Kinderzahl bei den Pflegebeiträgen wird der Beitragssatz nach der Zahl der Kinder weiter ausdifferenziert. Der Beitragszuschlag für Kinderlose soll von derzeit 0,35 auf 0,6 Beitragssatzpunkte steigen.

Lebenslange Berücksichtigung der Elterneigenschaft

Eltern zahlen dann generell 0,6 Beitragssatzpunkte weniger als Kinderlose. Bei kinderlosen Mitgliedern gilt ein Beitragssatz in Höhe von 4%. Bei Mitgliedern mit einem Kind gilt demgegenüber nur ein Beitragssatz von 3,4%.

Ab zwei Kindern wird der Beitrag während der Erziehungsphase bis zum 25. Lebensjahr um 0,25 Beitragssatzpunkte je Kind bis zum fünften Kind weiter abgesenkt.  Nach der jeweiligen Erziehungsphase entfällt der Abschlag wieder.

Es gelten somit folgende Beitragssätze:

Mitglieder ohne Kinder 4,00% (Arbeitnehmer-Anteil: 2,3%)
mit 1 Kind3,40% (lebenslang) (Arbeitnehmer-Anteil: 1,7%)
mit 2 Kindern3,15% (Arbeitnehmer-Anteil: 1,45%)
mit 3 Kindern2,90% (Arbeitnehmer-Anteil: 1,2%)
mit 4 Kindern 2,65% (Arbeitnehmer-Anteil 0,95%)
mit 5 und mehr Kindern2,40% (Arbeitnehmer-Anteil 0,7%)
Der Arbeitgeberanteil beträgt immer 1,7%.

Leistungsverbesserungen ab 2024

Die Verbesserungen beim Pflegegeld, bei den ambulanten Sachleistungsbeträgen und beim Pflegeunterstützungsgeld sollen ab 2024 gelten, ebenso wie die Erhöhung der Zuschläge an Pflegebedürftige in vollstationären Pflegeeinrichtungen.

Quelle: Bundesgesundheitsministerium

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„Sonderbedarfsstufe“ im AsylbLG ist verfassungswidrig

Mit dem „Migrationspaket“ der alten GroKo-Regierung wurden zum 1. September 2019 die Regeln für Asylbewerber verschärft. Unter anderem wurde seitdem mit dem § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), eine eigene Bedarfsgruppe für Asylbewerber in Sammelunterkünften geschaffen, deren Leistungen aufgrund des „Synergieeffektes“ geringer ausfallen. Dabei wurde einfach mal angenommen, dass Menschen aus völlig unterschiedlichen Herkunfts- und persönlichen Hintergründen, von Natur aus so gut miteinander können, dass sie sich auch gegenseitig unterstützen.

Unvereinbar mit dem Grundgesetz

Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nun kassiert. Mit dem am 24. November 2023 veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar ist.

„Sonderbedarfsstufe“

Die Entscheidung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in sogenannten Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ihnen hat der Gesetzgeber ab dem 1. September 2019 einen um 10 % geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen zugeschrieben, indem nicht mehr die Regelbedarfsstufe 1, sondern die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG neu geschaffene „Sonderbedarfsstufe“ der Regelbedarfsstufe 2 zugrunde gelegt wird. Dies ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar.

Es ist nicht erkennbar, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % tragen würden. Daneben kann der Gesetzgeber zwar im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen. Doch fehlt es an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Voraussetzungen dafür in den Sammelunterkünften tatsächlich gegeben sind.

Quellen: Bundesverfassungsgericht, FOKUS-Sozialrecht

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Triage Dilemma

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1541/20 entschieden, dass sich aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) für den Staat ein Auftrag ergibt, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung durch Dritte zu schützen. Dieser Schutzauftrag könne sich in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Etwa, wenn das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen bestehe.

Neuer § 5c IfSG

Der nun vom Bundesgesundheitsminister vorgestellte Gesetzentwurf fügt in das Infektionsschutzgesetz (IfSG) einen neuen Paragrafen 5c („Verfahren im Falle pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger, intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten“) ein, der die Vorgabe des Verfassungsgericht erfüllen soll, eine solche Situation gesetzlich zu regeln.

Inhalt des Entwurfs

Durch die Regelung des Verfahrens über die Zuteilung von überlebenswichtigen, pandemiebedingt nicht für alle verfügbaren intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten („Triage“) soll der gleichberechtigte Zugang aller intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Patientinnen und Patienten zur medizinischer Versorgung gewährleistet werden. Eine Diskriminierung, unter anderem aufgrund einer Behinderung, soll ausgeschlossen werden. Zugleich soll durch die Regelung von Verfahren und Allokationskriterien Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte geschaffen werden. Es wird zudem ausdrücklich geregelt, dass bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen sind.

ursprünglicher Entwurf

Vor alem der letzte Punkt, die sogenannte Ex-post-Triage, sorgt für heftige Diskussionen. Noch im ursprünglichen Gesetzentwurf war die Ex-post-Triage erlaubt. Bei knappen Kapazitäten in einer Pandemie sollte es möglich sein, die intensivmedizinische Behandlung eines Menschen zugunsten eines Patienten mit einer höheren Überlebenschance abzubrechen. Allerdings nur, wenn drei intensivmedizinisch erfahrene Fachärzte die Entscheidung einvernehmlich treffen.

Kritik an der Ex-post-Triage

Sofort hagelte es Kritik von den Behinderten- und Sozialverbänden und vom Koalitionspartner, den Grünen. Schwerkranke müssten danach im Krankenhaus permanent mit der Angst leben, dass die medizinisch notwendigen, lebenserhaltenden Maßnahmen zugunsten einer anderen Person beendet werden, dies sei weder den Patienten noch ihren Angehörigen zuzmuten, auch nicht den Ärzten, die eine solche Entscheidung treffen müssten.

Lauterbach ruderte zurück und versprach, im überarbeiteten Entwurf werde die Ex-post-Triage ausgeschlossen. Das stieß zunächst auf einhellige Zustimmung, auch unter den Ärztevertretern. Nun liegt der überarbeitete Entwurf vor und ist wieder heftig umstritten.

Kritik am Verbot der Ex-post-Triage

Diesmal wird gerade das Verbot der Ex-post-Triage heftig angegangen, vor allem von Vertretern der Ärzte. Sie pochen darauf, dass sie in Extremsituationen diese Möglichkeit haben müssen, wenn es darum gehe, möglichst viele Leben zu retten. Vertreter der intensivmedizinischen Fachgesellschaften betonen, alle Patientinnen und Patienten mit einem vergleichbaren intensivmedizinischen Behandlungsbedarf müssten aufgrund des Gleichheitsgebots auch gleichberechtigten Zugang zu Intensivressourcen haben. Ein früherer Behandlungsbeginn begründe keinen vorrangigen Anspruch auf eine Intensivbehandlung. Die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit lasse sich bei vielen Patienten erst nach einem intensivmedizinischen Behandlungsversuch verlässlich abschätzen. Wenn jedoch bereits zugeteilte intensivmedizinische Behandlungskapazitäten von den Zuteilungsentscheidungen ausgenommen würden (Ausschluss der sog. Ex-post-Triage), wie dies der Referentenentwurf vorsehe, entfalle die Möglichkeit eines Intensivbehandlungsversuchs und damit eine wesentliche Voraussetzung für eine valide Anwendung des Kriteriums der aktuellen Überlebenswahrscheinlichkeit.

Komorbidität und Behinderung

Auch die Sozial- und Behindertenverbände sind nicht zufrieden. Zwar wird der Verbot der Ex-post-Triage begrüßt. Es gebe aber Bedenken, dass bei der bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit Komorbiditäten werden können. Diese seien aber nicht genügend von Behinderungen abgegrenzt. Dies berge die Gefahr, dass Behinderung pauschal mit „Komorbidität“ in Verbindung gebracht und dadurch mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde. 

Gesetzgebungsverfahren

Eine mündlich Anhörung zum Gestezentwurf findet am 28.7.2022 statt, die Stellungnahmen werden alle auf der Webseite des Gesundheitsministeriums veröffentlicht. Eine weitere Änderung des Gestzentwurfs ist nicht ausgeschlossen.

Quellen: BMG, Tagesspiegel, Zeit, FOKUS-Sozialrecht

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Sozialverbände klagen für höhere Regelsätze

Im Januar 2022 wurden die Regelsätze wie geplant nach den Vorschriften des Regelbedarfsermittlungsgesetz und der Regelbedarfsfortschreibungsverordnung erhöht. Die Erhöhung fiel mit 3 Euro, für Kinder unter 6 Jahren nur 2 Euro, ziemlich mager aus. Und das bei einer auch Anfang des Jahres grassierenden Inflation zwischen 7 und 8 Prozent. Auch der später eingeführte Kinderbonus von 20 Euro im Monat und die Einmalzahlung von 200 Euro konnte an der Prekären Situation der Regelsatzempfänger nicht viel ändern.

Vorgaben des Verfassungsrichts ignoriert

Immerhin hatte die Bundesregierung sich ja an das geltende Recht gehalten. Allerdings gibt es seit 2014 ein Urteil des Bundeverfassungsgerichtes, in dem eindeutig klargemacht wird, was bei extremen Preissteigerungen zu tun ist: „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden (oben C II 2 e bb). Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten“.

Schon 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht klar: „Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht“.

Musterstreitverfahren

Auf diese Vorgaben der Verfassungsrichter berufen sich der Sozialverband Deutschland (SoVD) und der Verband der Kriegsopfer (VdK). Die minimale Erhöhung der Regelsätze Anfang 2022 verstößt aus Sicht beider Verbände gegen den verfassungsmäßigen Auftrag, das Existenzminimum zeitnah sicherzustellen.

Es handelt sich um ein Musterstreitverfahren. Ein Musterstreitverfahren ist ein Verfahren, das die Verbände stellvertretend mit einigen Klägerinnen und Klägern im Fall von ungeklärten juristischen Fragen führt, die eine Vielzahl ihrer Mitglieder betrifft. Kommt es zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, können auch alle anderen, die von dieser Frage betroffen sind, davon profitieren.

Langer Weg

Die beiden Sozialverbände müssen in ihrer Klage zunächst ein behördliches Vorverfahren und die folgenden gerichtlichen Instanzen durchlaufen, um dann eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreichen zu können. Da die meisten Bescheide rechtskräftig sind, müssen Musterklägerinnen und -kläger also zunächst einen Überprüfungsantrag gegen ihren Regelsatzbescheid stellen mit der Begründung, dass die Höhe des derzeitigen Regelsatzes nicht ausreichend ist, um das Existenzminimum zu decken. Die zuständige Behörde wird dann einen Bescheid erteilen, gegen den der VdK und der SoVD jeweils Widerspruch einlegen können. Wird dieser zurückgewiesen, wird der VdK dagegen vor dem Sozialgericht klagen. Sollte die Klage erfolglos sein, kann Berufung am Landessozialgericht erhoben werden. Wird auch dort die Berufung abgewiesen, kann der VdK das Verfahren dem Bundessozialgericht vorlegen. Bei einem negativen Urteil ist schließlich der Weg frei zum Bundesverfassungsgericht.

Quellen: VDK, SoVD, Bundesverfassungsgericht, FOKUS-Sozialrecht

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Klage gegen Energiepreispauschale

Die viel diskutierten „Entlastungspakete“ sind gerade erst in Kraft getreten. Teile davon wirken sich schon aus, nicht unbedingt im Sinne der Erfinder.

Konzerne, Chaos und Tröpfchen

Wie vielfach befürchtet profitieren von der Spritsteuersenkung hauptsächlich die Mineralölkonzerne. Das auf drei Monate begrenzte 9-Euro-Ticket verursacht außer ein wenig Chaos keine nachhaltige Wirkung. Auch das war im Vorfeld schon bemängelt worden.

Mehr als heiße-Stein-Tröpfchen sind weder die Einmalzahlungen für Sozialleistung- und Kindergeldbezieher*innen noch der Sofortzuschlag für von Armut betroffenen Kinder von 20 Euro monatlich.

VDK kündigt Klage an

Nun kündigt der VDK eine Klage gegen die Energiepreispauschale an. Auch hier gab es im Vorfeld schon Kritik, vor allem, weil einige Bevölkerungsgruppen gar nicht berücksichtigt wurden.

Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes

Wegen der anhaltend hohen Energiepreise zahlt die Ampelkoalition allen Erwerbstätigen eine einmalige Pauschale: Bis zu maximal 300 Euro – je nach Steuersatz – bekommen die meisten Bürgerinnen und Bürger im September dann zusätzlich zum Gehalt auf ihr Konto. Wer 2022 keine steuerpflichtige Tätigkeit ausgeübt hat, bekommt hingegen nichts. Zu den „Verlierern“ gehören Rentner und Rentnerinnen auch mit Erwerbsminderungsrente, Studierende, pflegende Angehörige, und alle, die im gesamten Jahr 2022 lediglich Kranken-, Übergangs oder Elterngeld bekommen. Damit werde der Gleichheitsgrundsatz verletzt.

bis zum Verfassungsgericht

Der VDK will nun dagegen klagen und ist bereit, zur Not bis zum Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Allerdings muss zunächst der Weg durch die Instanzen gegangen werden. Der Verband braucht dafür einen konkreten Steuerbescheid für das Jahr 2022, gegen den dann Einspruch erhoben werden kann und bei Ablehnung des Einspruchs beim Finanzgericht geklagt wird. Somit kann das ganze Verfahren wohl erst im Sommer 2023 starten. Nach dem FInanzgericht folgt als nächste Instanz der Bundesfinanzhof und schlussendlich das Bundesverfassungsgericht.

Musterstreitverfahren

Der VdK wird ein Musterstreitverfahren führen, also für eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern klagen, die weder die 300 Euro Energiepreispauschale, noch eine Einmalzahlung erhalten, weil sie Grundsicherungs- oder Arbeitslosengeld-1-Empfängerinnen und -Empfänger sind. Sollte er vor dem Verfassungsgericht Recht bekommen, profitieren dann auch alle anderen davon, die gegen ihren Steuerbescheid Einspruch eingelegt haben. Dies sollten sie tun, sobald das Musterstreitverfahren am Finanzgericht anhängig ist.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Vielleicht gibt es bis dahin ja noch bessere politische Lösungen, bei denen keiner zu kurz kommt. Hoffnung machen immerhin die Ankündigungen der Regierung auf weitere Entlastungspakete, auf eine Reform des SGB II („Bürgergeld„) und auf die Einführung einer Kindergrundsicherung.

Quellen: VDK, FOKUS-Sozialrecht

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Beiträge zur Pflegeversicherung

Jedem ist klar, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung in Zukunft steigen werden. Vor allem, wenn die Pflegeversicherung weiter ausgebaut werden soll in Richtung Vollversicherung, wie es viele Sozialverbände seit langem fordern. Selbst wenn dabei der Staat aus Steuermitteln zuschießt, werden wir um einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag nicht herumkommen.

Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden, dass dabei nicht nur – wie bisher – der Umstand berücksichtigt werden muss, ob der Versicherte Kinder hat oder nicht, sondern auch, wie viele Kinder vorhanden sind.

es geht um wenige Euro

Der Unterschied in der Beitragshöhe zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern ist nicht sehr groß. Er beträgt bei einem Durchschnittseinkommen etwa 7 Euro im Monat. So wird es bei der Staffelung nach Anzahl der Kinder, die laut Gesundheitsminister bis Mitte 2023 umgesetzt werden wird, auch nur um geringe Euro-Beiträge gehen, letztlich für eine Familie mit mehr als einem Kind auch nur ein Tröpfchen auf dem heißen Stein. Oder eine halbe Pizza mehr im Monat.

Ableitungen aus Artikel 3

Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Entscheidung mit dem „Belastungsgleichheitsgebot“ und mit dem „Differenzierungsgebot“, dass aus Artikel 3, Absatz 1 („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) abzuleiten sei.

Wirkten sich staatlich geforderten Abgaben, wie Beiträge zur Sozialversicherung innerhalb der Gruppe der Familien zu Lasten bestimmter Familienkonstellationen nachteilig aus, so müsse der Staat den besonderen Schutz beachten, den er der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schuldet.

Differenzierung im Sozialversicherungsrecht

Eine Gleichbehandlung für alle sei nur dann rechtens, wenn nach der Verhältnismäßigkeitsprüfung tatsächlich für alle eine gleiche relative Belastung erfolge. Eine daraus folgende differenzierende Regelung zugunsten von Benachteiligten sei dann möglich, das angestrebte Regelungsziel ohne Belastung Dritter oder der Allgemeinheit gleich wirksam erreicht werden kann. Im Sozialversicherungsrecht müsse eine Differnzierung eben dort festgelegt werden. Die sei beispielsweise in der Krankenversicherung durch die Familienversicherung der Fall.

Mehr Kinder – mehr Belastung

Bei der Pflegeversicherung reicht den Verfassungsrichtern aber nicht die einfache Differenzierung nach Kinder oder nicht Kinder. Hier führe die die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitragsbelastung von Eltern zu einer verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Daraus folgt, dass es eine Differenzierung auch nach der Anzahl der Kinder geben muss.

Quelle: Bundesverfassungsgericht

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Bundesverfassungsgericht zu Triage

Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssen entscheiden, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen erhalten soll und wer nicht. In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen. Dafür muss sichergestellt sein, dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird.

Bisher keine verbindliche Regelung

Der Gesetzgeber hat bislang keine Vorkehrungen getroffen, die dem Risiko einer Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung bei der Verteilung von knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen wirksam begegnen.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht muss der Gesetzgeber für den Fall pandemiebedingter Triage „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen treffen. Damit hat das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführenden recht gegeben. Und der alten Bundesregierung nachträglich eine Klatsche verpasst, die eine gesetzliche Regelung abgelehnt hat.

Beschwerde zum Schutz vor Benachteiligung

Gemeinsam mit acht weiteren Klägern, schwer und teilweise schwerst behinderte und überwiegend auf Assistenz angewiesene Menschen, legte Nancy Poser, eine deutsche Juristin, im Juni 2020 Verfassungsbeschwerde gegen die von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im März erarbeiteten Leitlinien für die Triage ein, da sie durch diese ihre Grundrechte eingeschränkt sehen. Vor allem soll mit der Klage erreicht werden, dass der Gesetzgeber verpflichtet wird, die Frage der Triage zu regeln und diese sich nicht nur nach den Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften richtet. Bei der Beschwerde geht es um einen wirksamen Schutz vor Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen, die im Laufe der Coronavirus-Pandemie nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen können, also in einem Fall einer Triage. Sie sind der Auffassung, der Gesetzgeber schütze sie in diesem Fall nicht vor einer Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung.

Bisher nicht wirksam geschützt

Das Verfassungsgericht stellt in dem Urteil klar, dass Anhaltspunkte für ein Risiko für die Betroffenen vorlägen bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Sie seien in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen könnten, derzeit nicht wirksam geschützt.

Diskriminisierungsrisiken

So werde auch aus ärztlicher Sicht davon ausgegangen, dass sich in der komplexen Entscheidung über eine intensiv-medizinische Therapie subjektive Momente ergeben könnten, die Diskriminierungsrisiken beinhalteten. Als sachkundige Dritte befragte Facheinrichtungen und Sozialverbände haben im Einklang mit wissenschaftlichen Studien dargelegt, dass ein Risiko besteht, in einer Situation knapper medizinischer Ressourcen aufgrund einer Behinderung benachteiligt zu werden. Mehrere sachkundige Dritte haben ausgeführt, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und eine unbewusste Stereotypisierung das Risiko mit sich bringe, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen.

Empfehlungen der Intensivmediziner

Dieses Risiko werde auch durch die fachlichen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für intensivmedizinische Entscheidungen bei pandemiebedingter Knappheit nicht beseitigt. Die Empfehlungen seien rechtlich nicht verbindlich und auch kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht, sondern nur ein Indiz für diesen. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können. Zwar stellten sie ausdrücklich klar, dass eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig sei. Ein Risiko berge gleichwohl, dass in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet würden. Insofern sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde. Auch werde die Erfolgsaussicht der Überlebenswahrscheinlichkeit als für sich genommen zulässiges Kriterium nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen.

Schnelle Gesetzgebung angekündigt

Als Reaktion auf die Entscheidung kündeten Vertreter der Regierung und der Opposition eine schnelle gesetzliche Regelung an, auch lautstark gefordert von den Parteien der ehemaligen Großen Koalition, die eine gesetzliche Regelung bislang für unnötig hielten.

Quellen: Bundesverfassungsgericht, Ärzteblatt, wikipedia, DIVI, Tagesschau

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