Wartefristen bei Leistungen für Asylbewerber

§ 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG regelt, dass Leistungsberechtigte, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben, sogenannte Analogleistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch erhalten. Sie bekommen demnach Leistungen entsprechend der Sozialhilfe sowie Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung anstatt der demgegenüber niedrigeren Grundleistungen nach § 3 AsylbLG und weiterer Leistungen nach den §§ 4 und 6 bis 7 AsylbLG.

von 18 auf 36 Monate

Laut dem Beschluss der Besprechung des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten vom 6. November 2023 soll der bisherige automatische Anspruch auf die sogenannten Analogleistungen statt bisher nach 18 Monaten künftig erst nach 36 Monaten eintreten.

Asylsuchende haben zur Zeit in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts schon heute keinen Anspruch auf das, was die gesetzlichen Krankenkassen als „medizinisch notwendig“ definiert ist. Die Frist soll auf 36 Monate verlängert werden.

Gravierende gesundheitliche Folgen

Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF) weisen zusammen mit medizinischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Fachverbände und mit über 200 zivilgesellschaftliche Organisationen darauf hin, wie gravierend sich sowohl die körperliche Gesundheit als auch die psychische Belastungssituation traumatisierter Geflüchteter verschlechtert, wenn über einen so langen Zeitraum hinweg keine Behandlung erfolgt. Dazu haben sie ein Positionspapier veröffentlicht sowie einen offenen Brief an den Bundeskanler.

erhebliche direkte und indirekte Folgekosten

Wenn Asylsuchende künftig drei Jahre auf einen weitgehend regulären Zugang zum Gesundheitssystem warten müssten, werde ihre psychosoziale Belastungssituation massiv zunehmen – mit Folgen für die Prävalenz psychischer Erkrankungen.
Aufgrund der Fokussierung auf Akutversorgung sei mit einer noch stärkeren Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychosozialen Notfallstrukturen zu rechnen. Für bereits vorliegende psychische Erkrankungen erhöhe sich das Chronifizierungsrisiko deutlich. Daraus entstünden erhebliche direkte und indirekte Folgekosten u. a. durch teurere stationäre Behandlungen sowie infolge zu später Behandlung höhere volkswirtschaftliche Kosten durch Beeinträchtigung der Schul- oder Arbeitsfähigkeit sowie ausbleibende oder erschwerte Integrations- und Teilhabechancen.

UN-Rüge

Die Bundesregierung wurde bereits mehrfach von den Vereinten Nationen dafür gerügt, dass Deutschland Asylsuchenden das Recht auf Gesundheitsversorgung verwehrt. Sie nun noch länger zu benachteiligen, ist menschenrechtswidrig und ignoriert die jüngste ausdrückliche Aufforderung des UN-Komitees zur Konvention gegen Rassismus (ICERD), die Ungleichbehandlung im Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen zu beenden (08.12.2023).

erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken

Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon vor über zehn Jahren entschieden, dass die „Menschenwürde…migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist. Der Versuch, die Flucht nach Deutschland zu begrenzen, indem man Geflüchteten den Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung versagt, ist also nicht nur unwirksam und unmenschlich, sondern auch verfassungswidrig.

Laut Einschätzung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Das gegenüber dem Existenzminimum herabgesetzte Leistungsniveau ist laut Bundesverfassungsgericht nur gerechtfertigt, wenn man bei einem nur kurzfristigen bzw. vorläufigen Aufenthalt in Deutschland von einem tatsächlich spezifischen Minderbedarf ausgehen kann. 22 Andernfalls seien Leistungen auf SGB XII-Niveau zu gewähren.

Quellen: BAfF, Bundesverfassungsgericht, Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste

Abbildung: fotolia_134032212.jpg

Rechtsgutachten zu Hartz IV

Der Bundesrat hat hat am 8. Oktober 2021 dem Vorschlag der Bundesregierung zugestimmt, die Regelsätze für Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anzupassen. Ab Januar 2022 erhalten alleinstehende Erwachsene 449 Euro im Monat – drei Euro mehr als bisher. Die Regelsätze für Kinder und Jugendliche erhöhen sich auf 311 bzw. 376 Euro. Für Kinder bis zu sechs Jahren steigt der Satz auf 285 Euro. Die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf beträgt im ersten Schulhalbjahr 104 Euro und für das zweite Schulhalbjahr 52 Euro.

Unterste Grenze

Laut Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 23.7.2014) liegen die Regelbedarfe an der untersten Grenze dessen, was verfassungsrechtlich gefordert ist. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber Regelungen schaffen müsse, um etwa höhere Preissteigerungen kurzfristig ausgleichen zu können.

geringe Erhöhung verfassungswidrig

Nach einem aktuellen Gutachten der Rechtswissenschaftlerin Professorin Anne Lenze ist die zum 1.1.2022 geplante sehr geringe Erhöhung der Regelsätze verfassungswidrig. Angesichts der Entwicklung der Lebenshaltungskosten verpflichte das Grundgesetz den Gesetzgeber, die absehbare Kaufkraftminderung für Grundsicherungsbeziehende abzuwenden. Da die Preisentwicklung durch die Anpassung nicht ausgeglichen wird, sinkt die Kaufkraft. Die Leistungsberechtigten können sich faktisch noch weniger leisten als bisher. Damit ist die vermeintliche Erhöhung der Regelsätze faktisch eine Kürzung.

Inflation

Die Preise haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Juli 2021 gegenüber dem Vorjahresmonat um 3,8 Prozent erhöht. Im August stieg die Inflationsrate bereits auf 3,9 Prozent. Insbesondere für Nahrungsmittel muss von den Verbraucher*innen deutlich mehr ausgegeben werden als im Vorjahresmonat (plus 4,6 Prozent im August). 

Anpassung unter der Preisentwicklung

In einem vom Paritätischen Gesamtverband in Auftrag gegebenen „verfassungsrechtlichen Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1. 2022“ bewertet Prof.in Anne Lenze (Darmstadt) die geplante Anpassung der Regelbedarfe aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive. Lenze referiert die beiden zentral einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus 2010 und 2014. Bereits 2014 habe das Bundesverfassungsgericht die Regelbedarfe als an der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert“ sei, bewertet. Der Gesetzgeber hätte bereits in Reaktion auf dieses Urteil mit einer Anhebung der Regelbedarfe oder mit zusätzlichen Ansprüchen reagieren müssen. Beides sei nicht geschehen. Vor diesem Hintergrund sei die anstehende Regelbedarfsanpassung definitiv unzureichend. Die Anpassung liege deutlich unter der Preisentwicklung und führe damit „evident zu einem spürbaren Kaufkraftverlust von Bezieher*innen von Grundsicherungsleistungen und einer Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums“. Die Autorin schließt ihr Kurzgutachten mit der Aussage: „Da die Regelbedarfe nach Auffassung des BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 schon am untersten Rand des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren lagen, muss die absehbare Kaufkraftminderung (…) umso dringlicher abgewendet werden, um ein weiteres Absinken der Regelbedarfe unter die Schwelle des menschenwürdigen Existenzminimums abzuwenden.“ 

Kurzfristig Pauschale Erhöhung?

Die zukünftige Bundesregierung wird nicht innerhalb kürzester Zeit ein Verfahren zur Änderung der Regelsätze festklopfen können, bis dahin wäre es aber möglich, und nötig, übergangsweise eine pauschale Regelleistungserhöhung einzuführen.

Appell an den Arbeitsminister

Mit einem Appell an Arbeitsminister Hubertus Heil fordert nun ein breites Bündnis eine rote Linie bei existenzsichernden Leistungen wie Hartz IV einzuführen. Preissteigerungen müssten immer und zeitnah mindestens ausgeglichen werden. Es gelte umgehend zu handeln, um die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten in unserer Gesellschaft zu stoppen.

Bezug zur Klimapolitik

Der Appell sieht auch einen Bezug zur dringend notwendigen konsequenten Klimaschutzpolitik. Eine sozial-ökologische Wende sei nur möglich, wenn auch Grundsicherungsbeziehende daran teilhaben können. Auf einen Schutz vor versteckten Kürzungen am Existenzminimum bei Preissteigerungen zu verzichten, hieße gesellschaftlicher Spaltung Vorschub zu leisten und jenen Kritikern einer guten Klimapolitik in die Hände zu spielen, die Klimapolitik gegen Sozialpolitik ausspielen wollten.

Unterzeichnende Verbände des Appells:

  • Der Paritätische Gesamtverband e.V.
  • Sozialverband VdK Deutschland e.V.
  • Attac Deutschland
  • Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V./ Friends of the Earth Germany
  • Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
  • Tafel Deutschland e.V.
  • Deutsches Kinderhilfswerk e.V.
  • BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V.
  • Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e.V. (DBfK)
  • Deutscher Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
  • Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands e.V.
  • Sanktionsfrei e.V.
  • Volkssolidarität Bundesverband e.V.
  • Advent-Wohlfahrtswerk e.V.
  • SOZIALWERK des dfb (Dachverband) e.V.
  • PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien e.V.

Quelle: Paritätischer Gesamtverband

Abbildung: Fotolia_113739057_Subscription_XL.jpg

BAföG-Bedarfssatz vor Gericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 20.5.2021 entschieden, dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Vereinbarkeit des Bedarfssatzes mit den Bestimmungen des Grundgesetzes zur Entscheidung vorzulegen.

Anspruch auf Existenzminimum

Die Regelung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), nach der im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 ein monatlicher Bedarf für Studierende in Höhe von 373 Euro galt (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 BAföG), verstößt nach Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts gegen den aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten folgenden Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums (Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG – in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG). 

Soziale Gegensätze ausgleichen

Dieses Teilhaberecht verpflichtet den Gesetzgeber, für die Wahrung gleicher Bildungschancen Sorge zu tragen und im Rahmen der staatlich geschaffenen Ausbildungskapazitäten allen entsprechend Qualifizierten eine (Hochschul-) Ausbildung in einer Weise zu ermöglichen, die den Zugang zur Ausbildung nicht von den Besitzverhältnissen der Eltern abhängig macht, sondern ihn so gestaltet, dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen werden und soziale Durchlässigkeit gewährleistet wird.

Ermittlung des Bedarfssatzes

Konkret geht es um die Ermittlung des Bedarfssatzes. Somit hat die Vorlage des BVerwG eine grundsätzliche Bedeutung, auch wenn es im konkreten Fall um eine Berechnung aus dem Jahr 2016 ging.

Das Deutsche Studentenwerk erklärt dazu, dass es seit Jahren die Bundesregierung auffordert, den Bedarfssatz der Studierenden empirisch sauber festzustellen und nicht einfach von Jahr zu Jahr fortzuschreiben. Nach den Berechnungen einer Anfang 2019 vom DSW vorgestellten Studie zur Ermittlung der Lebenshaltungskosten von Studierenden hätte der BAföG-Grundbedarf bereits im Jahr 2016 zwischen 500 und 550 Euro im Monat betragen müssen.

Das BVerwG führt dazu aus, dass dem Gesetzgeber dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe und dass das tatsächliche Gebrauchmachen von dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht nicht an einer unzureichenden finanziellen Ausstattung von Ausbildungswilligen scheitert. 

Kein taugliches Berechnungsverfahren

Die Ermittlung des Bedarfssatzes unterliegt der Prüfung, ob der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Dieser Prüfung hält der streitige Bedarfssatz nicht stand. Eine den vorgenannten Anforderungen gerecht werdende Festsetzung kann unter anderem deshalb nicht nachvollzogen werden, weil das gewählte Berechnungsverfahren im Unklaren lässt, zu welchen Anteilen der Pauschalbetrag auf den Lebensunterhalt einerseits und die Ausbildungskosten andererseits entfällt und diese abdecken soll. Zudem fehlt es an der im Hinblick auf die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten gebotenen zeitnahen Ermittlung des entsprechenden studentischen Bedarfs. Hier lag der Festsetzung aus dem Jahre 2010, die bis 2016 galt, eine Erhebung aus dem Jahr 2006 zugrunde.

Strukturelle BAföG-Reform

Die BAföG-Novellierungen der vergangenen Jahre holten nicht auf, so das DSW, was man in der Vergangenheit versäumt habe. 2012 gab es 671.000 BAföG-geförderte Studierende; 2019 waren es noch 489.000. Deshalb fordert das DSW, die Elternfreibeträge so schnell wie möglich um weitere 15 Prozent zu erhöhen.

Das DSW fordert eine grundlegende, strukturelle BAföG-Reform:

  • BAföG an die Lebens- und Studienrealität anpassen
  • die Förderungshöchstdauer nicht mehr an die Regelstudienzeit koppeln
  • Altersgrenzen weg
  • Förderung in Richtung Vollzuschuss.

Bundesverfassungsgericht muss entscheiden

Weil das Bundesverwaltungsgericht als Fachgericht nicht befugt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen, hat es das Revisionsverfahren ausgesetzt und die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Quellen. Bundesverwaltungsgericht, DGB, Deutsches Studentenwerk

Abbildung: Fotolia_105362974_Subscription_XXL.jpg