(Keine) Reformen im SGB II

Im Januar dieses Jahres präsentierte das BMAS einen Gesetzentwurf zur Änderung des SGB II (Elftes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze). Wir berichteten am 30. Januar 2021 darüber.

Kein Änderungsgesetz vor den Wahlen

Der Entwurf ist mittlerweile in der Versenkung verschwunden. Er gelangte in der
laufenden Legislaturperiode nicht mehr zur Beratung und Verabschiedung in den Deutschen Bundestag, obwohl mit ihm das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Reform des Sanktionsrechts – Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16 – umgesetzt werden sollte.

Außerdem sollte der in der Pandemie vorübergehend eingeführte vereinfachte Zugang zum Arbeitslosengeld II dauerhaft festgelegt werden. Und es sollte weitere Anpassungen und Klarstellungen zur Weiterentwicklung des Eingliederungsprozesses geben.

Ausschuss-Anhörung

Stattdessen haben nun die Oppositionsfraktionen mehrere Anträge für Reformen im System der Grundsicherung für Arbeitssuchende gestellt. Auch mehrere Verbände melden Änderungsbedarf in der Grundsicherung an. Dazu gab es am 7. Juni 2021 eine Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales.

Anträge der Opposition:

  • Einführung von Bagatellgrenzen bei Rückforderungen (FDP),
  • 25-Prozent-Freibetrag für Rentner (AfD),
  • sanktionsfreie Mindestsicherung und Verhinderung von Grundsicherungskürzungen bei Rentnern (Linke),
  • Garantiesicherung statt Hartz IV (Grüne).

Forderungen der Verbände:

  • Der Deutsche Caritasverband e. V. will unter anderem einen Paradigmenwechsel in der Grundsicherung, der das „Fördern“ deutlich markanter ins Zentrum rückt. Integrationserfolge dürften nicht länger durch die Drohungen mit Verwaltungsakten und einem starren Sanktionsregime behindert werden.
  • Der Deutsche Landkreistag unterstützt, wie die meisten anderen Verbände auch, die Einführung einer Bagatellgrenze für Rückforderungen. „Dies würde zu mehr Bürgerfreundlichkeit und zur Vermeidung unnötiger Bürokratie beitragen.“
  • Die Diakonie Deutschland Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. fordert unter anderem „eine Regelsatzermittlung, die Zirkelschlüsse vermeidet und eine untere Haltelinie gewährleistet und eine Festlegung von Kosten der Unterkunft, die die tatsächlichen Gegebenheiten am Wohnungsmarkt zum Maßstab nimmt“.
  • Der Deutsche Städtetag schreibt: „Die Städte zweifeln daran, ob der restriktive Umgang der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit jungen Menschen zielführend ist“, deren Ungleichbehandlung im SGB II müsse beendet werden.
  • Die Bundesagentur für Arbeit befürwortet das System des „Förderns und Forderns“ in der Grundsicherung, schlägt aber dennoch eine Entschärfung des Sanktionsrechts bei unter 25-Jährigen und auch die Einführung einer Bagatellgrenze für Rückforderungen vor.
  • Der Sozialverband VdK Deutschland e. V. schreibt: „Die Aussetzung der Vermögensprüfung und die Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten im Zuge des erleichterten Zugangs zur Grundsicherung im Zuge der Corona-Pandemie waren sehr sinnvolle Maßnahmen, die unbedingt in einem neuen Grundsicherungssystem fortgesetzt werden müssten.“
  • Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält es unter anderem für notwendig, die Regelsätze neu zu ermitteln, eine Kindergrundsicherung und ein Recht auf Weiterbildung einzuführen. Während Die Linke jedoch fordere, das neue Leistungsniveau in Höhe einer Pauschale von 1.200 Euro aus der Armutsgrenze abzuleiten, halte der DGB eine Herleitung aus den Verbrauchausgaben für sachgerechter – wenn die Referenzgruppen neu definiert würden und bestimmte Standards erfüllten.
  • Der Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD) fordert, „die Regelsätze mittels eines transparenteren Statistikmodells zu ermitteln, das sich am tatsächlichen Bedarf orientiert und auf willkürliche, sachlich nicht begründbare Abschläge und normative Streichungen verzichtet“.
  • Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „unterstützt die Erhöhung des Personalschlüssels beziehungsweise die Reduktion des Betreuungsschlüssels, weil damit zum einen die gesetzliche Forderung nach einer festen Ansprechperson besser erfüllt werden könnte und zum anderen die Beratungsqualität erhöht werden könnte“.

Quellen: Bundestag, FOKUS-Sozialrecht

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Pflegereform: Eigenanteile

Die Eigenanteile bei den Heimkosten steigen immer weiter. Sie sind für immer mehr Heimbewohner nicht mehr tragbar. Der Anteil der Heimbewohner, der auf Sozialhilfe angewiesen ist, steigt. Die Aussicht, im Alter bei Pflegebedürftigkeit nach vielen Jahren Arbeit seine komplette Rente abgeben zu müssen, dazu noch Sozialhilfe beantragen zu müssen und dann mit einem mickrigen Taschengeld abgespeist zu werden, ist nicht gerade verlockend.

Entlastung angekündigt…

Umso erfreulicher klingt die Ankündigung von Gesundheitsminister Spahn zu der Pflegereform, die in den nächsten Wochen in den Parlamenten beraten wird:

»Wir entlasten die Pflegebedürftigen nach mehr als 24 Monaten Pflege durchschnittlich um rund 410 Euro im Monat, nach mehr als 36 Monaten Pflege sogar um rund 638 Euro im Monat.«

… aber nur für eine Minderheit

Als erstes fällt auf, dass die Mehrheit der Heimbewohner von vornherein ausgeschlossen ist. Denn die meisten Heimbewohner bleiben gar keine zwei Jahre dort. Sie sterben vorher.

Zuzahlung über 2.000 Euro

Die gesamten Zuzahlungen eines Pflegebedürftigen bei Heimunterbringung belaufen sich gegenwärtig bei erheblicher Streuung schon auf der Ebene der Bundesländer (die zwischen einzelnen Heimen nochmals größer sein können bzw. sind) auf durchschnittlich 2.068 Euro pro Monat. Davon entfallen 831 Euro auf die nicht über die Leistungen der Pflegeversicherung gedeckten pflegebedingten Kosten der Versorgung. Und bei diesem Posten sollen die Pflegebedürftigen entlastet werden.

Im vierten Jahr 75 Prozent

Nach 24 Monaten soll laut neuestem Gestzentwurf die Entlastung 45 Prozent des Eigenanteils betragen. Im zweiten Jahr sind es 25 Prozent, im ersten Jahr noch gewaltige 5 Prozent. Ab dem vierten Jahr steigt die Entlastung dann sogar auf 75 Prozent. Immerhin ein Segen für die wenigen, die so lange in einem Pflegeheim überleben.

Eigenanteil höher gerechnet

Die Entlastung nach 24 Monaten beträgt also laut Gestzentwurf 45 Prozent von 831 Euro, das sind 374 Euro. Aber hieß es nicht, die Entlastung solle 410 Euro betragen? In der Gesetzesbegründung klärt sich das auf: Dort geht man von einem durchschnittlichen Eigenanteil von 911 Euro aus, also rund 10 Prozent mehr als jetzt.

Offenbar sollen das die Mehrkosten für die geplante Erhöhung der Pflegelöhne sein, die ja alle nach Tarif bezahlt werden sollen. Allerdings erst ab 1. September 2022. Auch an der Umsetzung dieses Punktes gibt es erhebliche Zweifel, aber das ist ein anderes Thema.

Fazit

Fazit ist, dass das Versprechen über die Entlastung bei der Eigenbeteiligung, freundlich ausgedrückt, beschönigend ist. Es beruht auf Zahlen, die (noch) gar nicht existieren. Und: Eine spürbare Entlastung wird es nur für einen geringen Teil der Betroffenen geben.

Selbst, wenn man die höchste versprochene Entlastung nimmt, also für einen Pflegeheimbewohner nach mehr als drei Jahren Verweildauer, bedeutet das für ihn, das er insgesamt immer noch eine Gesamtzuzahlung von mehr als 1.500 Euro zahlen muss. Zu viel bei einer Durchschnittsrente von 700 bis 800 Euro (Frauen) und 1150 bis 1250 Euro (Männer).

Quellen: BMG, aktuelle-sozialpolitik, Paritätische Gesamtverband, Verbraucherzentrale, mystipendium.de

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Pflege: Reform oder Mogelpackung?

Die Pflegereform nimmt Fahrt auf. Am Mittwoch, den 2.6.2021 verabschiedete das Bundekabinett eine „Formulierungshilfe für Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen zum Bundeszuschuss GKV und für Reformschritte in der Pflege“.

Bessere Bezahlung – höherer Beitrag

Bekannt geworden war schon vorher, dass alle Pflegekräfte nach Tarif bezahlt werden sollen – ab 1. September 2022. Dann sollen nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen werden – also mit der Pflegeversicherung abrechnen können –, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlen.

Der Beitragszuschlag für Kinderlose soll ab 2022 um 0,1 Prozentpunkte angehoben werden, hierdurch würde die Pflegeversicherung zusätzlich 400 Mio. Euro/Jahr erhalten. Eine weitere Milliarde jährlich soll die Pflegeversicherung als Bundeszuschuss aus Steuergeldern erhalten.

Eckpunkte und Arbeitsentwurf

Letzten Herbst hat das BMG ein Eckpunktepapier vorgelegt für eine „umfassende“ Pflegereform (siehe auch hier). Schon dazu hagelte es Kritik, unter anderem wegen des zu geringen Pflegekostendeckels bei der Eigenbeteiligung und der Einschränkung der Flexibilität bei der Verhinderungspflege.

Mitte März 2021 folgte dann der „Arbeitsentwurf“ zur Pflegereform. Dieser sieht nun ein Stufenmodell für den Eigenanteil vor: Je länger ein Bewohner in einem Pflegeheim lebt, desto geringer ist sein Eigenanteil. Im ersten Jahr des Pflegeheim-Aufenthalts sollen die Versicherten bzw. ihre zahlungspflichtigen Angehörigen die vollen Eigenanteile tragen. Im zweiten Jahr sollen die Eigenanteile dann um 25 Prozent sinken, nach mehr als 24 Monaten um die Hälfte. Bei Pflegebedürftigen, die 36 Monate und länger stationär betreut werden, soll sich der Eigenanteil gar um 75 Prozent reduzieren. Aktuell müssen Pflegeheimbewohner im bundesweiten Durchschnitt 2.068 Euro im Monat aus eigener Tasche zahlen.

Kritik aus der Fachwelt

Da die durchschnittliche Verweildauer eines Menschen im Heim bei etwas über einem Jahr liegt, klingt der Vorschlag etwas zynisch. Kritik kommt auch von Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Uni Bremen, der den „Eckpunkten“ noch Lob zollte, weil die Risiken von allen Versicherten und nicht von den einzelnen Heimbewohnern getragen würden. Zum Arbeitsentwurf schreibt er allerdings, dass dieser „relative Deckel“ damit alles andere als gerecht und sozial ausgewogen sei. Die Eigenanteile blieben unkalkulierbar und würden ebenso wie die Sozialhilfeabhängigkeit mittel- und langfristig wieder steigen. Der Arbeitsentwurf fiele damit weit hinter die Ankündigungen des Eckpunktepapiers zurück.

Reform wird versteckt

Um die Verwirrung noch etwas zu vergrößern, soll es jetzt wohl kein eigenständiges Pflegereformgesetz geben. Vielmehr beziehen sich die umfangreichen Formulierungshilfen für Änderungsanträge, die das Kabinett heute beschlossen hat, alle auf den „Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ (GVWG). Dieses Gesetz wurde schon im Februar im Bundestag beraten, die weitere für den Mai vorgesehene abschließende Beratung wurde aber verschoben.

Inhalte der Pflegereform

Wesentliche Inhalte der nun im GVWG verpackten Pflegereform sind:

  • Auch im ersten Jahr sollen Heimbewohner von der Eigenbeteiligung entlastet werden: um 5 Prozent.
  • In der ambulanten Pflege sollen die Leistungsbeträge um fünf Prozent erhöht werden.
  • Nach einer Krankenhausbehandlung wird oft eine stärkere Versorgung durch Pflegekräfte benötigt. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, soll die Kurzzeitpflege deutlich ausgebaut werden. Dafür soll auch der Leistungsbeitrag der Pflegeversicherung um zehn Prozent angehoben werden.
  • Neuer Anspruch auf Übergangspflege bis zu 10 Tage für den Fall, dass im Anschluss an eine Krankenhausversorgung eine Pflege im eigenen Haushalt oder etwa in einer Kurzzeitpflege nicht sichergestellt werden kann.
  • In der stationären Altenpflege soll ein einheitliches Personalbemessungsverfahren eingeführt werden.

Und wie schon erwähnt: die Tarifbindung und die Erhöhung des Beitrags für Kinderlose.

Eltern gegen Kinderlose

Mit dem letzten Punkt wird übrigens wieder ein unnötiger Streit angefacht zwischen Kinderlosen und Eltern, damit keiner darüber diskutiert, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre in Deutschland um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020, also während der Pandemie, um mehr als 100 Milliarden Euro angewachsen (Zeit.de).

Mogelpackung

Massive Kritik an den Pflegereformplänen kommt auch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Die Vorschläge der Großen Koalition seien ein “fauler Kompromiss” und der Gesetzentwurf eine “Mogelpackung”. Es fehle nach wie vor eine wirksame Regelung zur Deckelung der Eigenanteile bei den Pflegekosten, die alle Betroffenen wirklich entlaste. Auch der Kompromiss zur Entlohnung von Pflegekräften falle weit hinter die Ankündigungen zurück. Der Paritätische bekräftigt seine Forderung nach einer Vollkaskoversicherung als Bürgerversicherung, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit wirksam absichert. Übergangsweise fordert der Verband eine Begrenzung des Eigenanteils in Höhe von 15 Prozent, die Pflegekassen sollen stattdessen stärker in die Pflicht genommen werden.

Quellen: BMG, VDEK, Tagesschau, Paritätischer Wohlfahrtsverband, ZEIT, FOKUS-Sozialrecht

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Teilhabestärkungsgesetz im Bundesrat

Nach dem Bundestag hat am 28. Mai 2021 auch der Bundesrat dem Teilhabestärkungsgesetz zugestimmt, um Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen in deren Alltag und Arbeitsleben zu verbessern.

Mehr zu den Inhalten des Gesetzes

Bundesrat will Kostenbeteiligung

Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom 26. März 2021, BR-Drucksache 129/21 (Beschluss) gefordert, Artikel 7 Nummer 15 des Teilhabstärkungsgesetzes (samt Folgeänderungen) zunächst aus dem Gesetz auszuklammern, da die Ausarbeitung der Rechtsverordnung, die zur Umsetzung des veränderten § 99 SGB IX erforderlich ist, noch aussteht. Diese Rechtsverordnung wird den leistungsberechtigten Personenkreis wesentlich bestimmen und sollte daher nicht losgelöst von der Gesetzesänderung betrachtet werden. Darauf hatten bereits die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 26. November 2020 einstimmig hingewiesen.
Der Bund hat sich entschieden, dieser Forderung der Länder nicht zu entsprechen. Da aber Kostenfolgen für Länder und Kommunen nicht überblickt werden können, solange der Inhalt der Rechtsverordnung zum leistungsberechtigten Personenkreis nicht feststeht, ist der Bund gefordert, etwaige Mehrkosten auszugleichen.

Arbeisgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“

Der neue § 99 ist also in Kraft. Der Wortlaut entspricht dem Vorschlag der Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“.

Keine Veränderung des Personenkreises

Nach intensiven Erörterungen im Gesetzgebungsverfahren des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde mit Artikel 25a BTHG für § 99 SGB IX eine Regelung zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe (SGB IX Teil 2) aufgenommen, die durch ein späteres Bundesgesetz konkretisiert und zum 1. Januar 2023 in Kraft gesetzt werden sollte. Zuvor sollte durch eine wissenschaftliche Untersuchung und eine modellhafte Erprobung der Regelung u. a. ihre Vereinbarkeit mit dem übergeordneten gesetzgeberischen Ziel – keine Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises – überprüft werden. Da die in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis geführt hat, dass die im BTHG vorgesehene Regelung zu einer Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises führen würde, ist dieses Konzept hinfällig.

Angleichung an UN-BRK und ICF

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018 einen partizipativen Beteiligungsprozess initiiert, um ein alternatives Konzept zu Artikel 25a § 99 BTHG zu entwickeln. Die sich in diesem Rahmen gebildete Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“ hat sich 2019 auf ein Konzept verständigt, wonach die Kriterien für die Berechtigung zu Leistungen der Eingliederungshilfe durch Orientierung an den Begrifflichkeiten der UN-BRK und der ICF angepasst werden sollen. In diesem Konzept ist – wie im alten Recht der Eingliederungshilfe – neben einer gesetzlichen Regelung eine diese Regelung konkretisierende Rechtsverordnung vorgesehen. Der von der Arbeitsgruppe ausgearbeitete Vorschlag der gesetzlichen Regelung wird nun umgesetzt.

Ziel der Arbeitsgruppe

Ziel der Arbeitsgruppe war es, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der Menschen mit Behinderungen, der kommunalen Leistungsträger, der Leistungserbringer und der Länder sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft und Praxis auf die Grundzüge eines Modells zur Ausgestaltung des leistungsberechtigten Personenkreises verständigen. 

Die konkreten Vorschläge zur künftigen Ausgestaltung der Regelungen des Leistungszugangs stehen vor dem Hintergrund, dass sich der leistungsberechtigte Personenkreis in der Eingliederungshilfe nicht verändern soll.

Zentrale Ergebnisse

  • Die Kriterien für den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe werden so angepasst, dass sie sich an den Begrifflichkeiten der UN-BRK und der ICF orientieren.
  • Neben der gesetzlichen Regelung im künftigen § 99 SGB IX wird es eine konkretisierende Rechtsverordnung geben.
  • Für einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe ist auch künftig das Vorliegen einer Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX nicht ausreichend. Zusätzlich muss ein weiteres Kriterium erfüllt sein.
  • Der Begriff der „wesentlichen“ Behinderung, der für einen Zugang zu Eingliederungshilfeleistungen erforderlich ist, wird künftig legal in § 99 Abs. 1 SGB IX definiert.
  • Liegt keine „wesentliche“ Behinderung vor, können Personen mit einer anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbehinderung auch künftig Leistungen der Eingliederungshilfe im Ermessensweg erhalten.
  • Entscheidend für das Vorliegen einer „wesentlichen“ Behinderung ist, dass die Beeinträchtigung in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu einer wesentlichen Einschränkung der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft führt, statt, wie in den bisherigen Regelungen formuliert, zur Einschränkung der Teilhabefähigkeit.

Nächstes Ziel: Verordnung

Eine vollständige Einigung des Verordnungstextes konnte im Rahmen der Arbeitsgruppe nicht mehr erreicht werden. Zur Klärung der verbliebenen offenen Fragen soll ein Folgeprozess stattfinden.

Umfassende Berichterstattung zum Bundesteilhabegestz und dessen Umsetzung finden Sie hier.

Quellen: Bundesrat, FOKUS-Sozialrecht, umsetzungsbegleitung-bthg.de

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Sparen durch Bürokratie?

Seit es das Bildungs- und Teilhabepaket gibt, also seit zehn Jahren, verstummt die Kritik nicht, es sei zu kompliziert und bürokratisch, zu undurchschaubar und komme bei den betroffenen Familien mit Hartz IV-Bezug nicht an, obwohl der Anspruch besteht.

Abschreckung durch Antrag

Auch beim Inkrafttreten des „Starke Familien-Gesetzes“ vor drei Jahren war dies einer der Hauptkritikpunkte. Dabei sollte gerade dieses Gesetz dafür sorgen, dass die Leistungen besser angenommen würden. Viel hat sich nicht geändert. Immer noch weiß ein Großteil der Betroffenen gar nicht, worauf sie Anspruch hätten und wenn sie dann doch den Antrag vor sich liegen haben, schreckt dieser durch seine Unmengen an oft nicht verständlichen Fragen und verlangten Nachweisen ab.

Die Bundesagentur für Arbeit hat nun eine Statistik für das Jahr 2020 veröffentlicht, in welchem Umfang Leitungsberechtigte die Leistungen überhaupt abrufen. Insgesam sind etwa zwei Millionen Kinder unter 15 Jahre leistungsberechtigt, davon erhielten aber nur 55 Prozent Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.

Beispiele:

  • 7,3 % aller leistungsberechtigten Schüler*innen bekam Geld für einen eintägigen Schulausflug,
  • 11,1 % für Lernförderung (Nachhilfe),
  • 14,7 % Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, z. B. Vereinsbeiträge.

Nur SGB II-Berechtigte in der Statistik

Nicht enthalten in der Statistik der Bundesagentur sind u. a. Daten über leistungsberechtigte Kinder und Jugendliche aus Familien, die Asylbewerberleistungen, Wohngeld oder den Kinderzuschlag erhalten. Die Bundesagentur für Arbeit weist zudem darauf hin, dass ihre Zahlen aus methodischen Gründen nicht geeignet seien, genaue Inanspruchnahme-Quoten des Bildungs- und Teilhabepakets zu errechnen. Aus Sicht von Experten zeigen sie dennoch eindeutig, dass das Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu viele Kinder nicht erreicht.

Ansprüche eindampfen

Vielleicht hat der Sozialwissenschaftler Stefan Sell recht. Er betreibt den Blog Aktuelle Sozialpolitik und schreibt: „Das komplexe System ist letztendlich nur erklärbar mit der Zielsetzung, die Inanspruchnahme dieser Rechtsanspruchsleistungen einzudampfen und darüber Geld einzusparen.“

Quellen: Bundesagentur für Arbeit, Tagesschau, Monitor

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Entgeltsystem in Werkstätten

In Deutschland arbeiten mehr als 300.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). WfbM sollen unterschiedliche Funktionen erfüllen (§ 219 SGB IX, rehabilitative Funktion, soziale Funktion, wirtschaftliche Funktion, Inklusionsfunktion), die auch in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen können. In der Diskussion stehen insbesondere die Vergütung der Tätigkeiten in WfbM und deren Öffnung zum allgemeinen Arbeitsmarkt. 

Auftrag des Bundestags

Schon 2019 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, „innerhalb von vier Jahren unter Beteiligung der Werkstatträte, der BAG WfbM, der Wissenschaft und weiterer maßgeblicher Akteure zu prüfen, wie ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem entwickelt werden kann.“

Studie des ISG

Dazu hat das BMAS das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) beauftragt eine entsprechende Studie zu erstellen. Begleitet wird die Studie von einer Steuerungsgruppe, die bei den wesentlichen Weichenstellungen des Projekts und bei der Erstellung der Berichte einbezogen werden soll. Die Steuerungsgruppe besteht aus Vertretern der Ministerien, der Freien Wohlfahrtspflege, des Deutschen Behindertenrats, Werkstatträten, Trägervertretern und Vertretern der Werkstätten für behinderte Menschen (u. a.).

Vierte Sitzung der Steuerungsgruppe

Mitte Mai fand die vierte  Sitzung der Steuerungsgruppe statt. Beratungsgegenstand der vierten Sitzung war der Entwurf eines Fragebogens, der an ca. 1800 Werkstattbeschäftigte im Arbeitsbereich und ca. 600 Teilnehmer im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich versendet werden soll. Er enthält vor allem Aspekte zur Einschätzung der aktuellen Einkommenssituation sowie zu Wünschen und Vorstellungen hinsichtlich Veränderungsmöglichkeiten.

Wie ist die Situation?

Die Werkstätten zahlen aus ihrem Arbeitsergebnis an die im Arbeitsbereich beschäftigten Menschen mit Behinderung ein Arbeitsentgelt, das sich aus einem Grundbetrag in Höhe des Ausbildungsgeldes, das die Bundesagentur für Arbeit nach den für sie geltenden Vorschriften Menschen mit Behinderung im Berufsbildungsbereich leistet, und einem leistungsangemessenen Steigerungsbetrag zusammensetzt. Der Steigerungsbetrag bemisst sich nach der individuellen Arbeitsleistung der Menschen mit Behinderung, insbesondere unter Berücksichtigung von Arbeitsmenge und Arbeitsgüte.

  • Grund-Betrag: Der Grund-Betrag beträgt seit Januar 2021 mindestens 99 Euro monatlich. Jede Person im Arbeits-Bereich bekommt den gleichen Grund-Betrag.
  • Steigerungs-Betrag: Der Steigerungs-Betrag für Werkstatt-Beschäftigte ist unterschiedlich hoch. Es gibt verschiedene Modelle, die mit dem jeweiligen Werkstatt-Rat abgestimmt werden.
  • Arbeits-Förderungs-Geld: Das Arbeits-Förderungs-Geld heißt kurz auch: AFöG. Viele Beschäftigte bekommen im Arbeits-Bereich ein zusätzliches Arbeits-Förderungs-Geld von derzeit 52 Euro monatlich.

Unterhalb des Mindestlohns

Selbst mit dem Steigerungsbetrag liegt das Entgelt in einer WfbM weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Die meisten Beschäftigten dort sind auf Leistungen der Grundsicherung oder auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung angewiesen. Renten- und Krankenkassen-Beiträge müssen sie nicht bezahlen.

Neues Entgeltsystem

Anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai forderte die Bundesvereinigung Lebenshilfe ein neues System der Entlohnung für Menschen mit Beeinträchtigung, die in Werkstätten beschäftigt sind. Einkommensmodelle sollten so weiterentwickelt werden, dass Werkstattbeschäftigte von ihrem Entgelt leben können und nicht auf weitere existenzsichernde Leistungen angewiesen sind. Auch soll das Entgeltsystem gut verständlich und transparent sein.

Quelle: eu-schwerbehinderung.eu, Lebenshilfe, ISG, BMAS

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BAföG-Bedarfssatz vor Gericht

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 20.5.2021 entschieden, dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Vereinbarkeit des Bedarfssatzes mit den Bestimmungen des Grundgesetzes zur Entscheidung vorzulegen.

Anspruch auf Existenzminimum

Die Regelung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), nach der im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 ein monatlicher Bedarf für Studierende in Höhe von 373 Euro galt (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 BAföG), verstößt nach Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts gegen den aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten folgenden Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums (Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG – in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG). 

Soziale Gegensätze ausgleichen

Dieses Teilhaberecht verpflichtet den Gesetzgeber, für die Wahrung gleicher Bildungschancen Sorge zu tragen und im Rahmen der staatlich geschaffenen Ausbildungskapazitäten allen entsprechend Qualifizierten eine (Hochschul-) Ausbildung in einer Weise zu ermöglichen, die den Zugang zur Ausbildung nicht von den Besitzverhältnissen der Eltern abhängig macht, sondern ihn so gestaltet, dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen werden und soziale Durchlässigkeit gewährleistet wird.

Ermittlung des Bedarfssatzes

Konkret geht es um die Ermittlung des Bedarfssatzes. Somit hat die Vorlage des BVerwG eine grundsätzliche Bedeutung, auch wenn es im konkreten Fall um eine Berechnung aus dem Jahr 2016 ging.

Das Deutsche Studentenwerk erklärt dazu, dass es seit Jahren die Bundesregierung auffordert, den Bedarfssatz der Studierenden empirisch sauber festzustellen und nicht einfach von Jahr zu Jahr fortzuschreiben. Nach den Berechnungen einer Anfang 2019 vom DSW vorgestellten Studie zur Ermittlung der Lebenshaltungskosten von Studierenden hätte der BAföG-Grundbedarf bereits im Jahr 2016 zwischen 500 und 550 Euro im Monat betragen müssen.

Das BVerwG führt dazu aus, dass dem Gesetzgeber dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe und dass das tatsächliche Gebrauchmachen von dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht nicht an einer unzureichenden finanziellen Ausstattung von Ausbildungswilligen scheitert. 

Kein taugliches Berechnungsverfahren

Die Ermittlung des Bedarfssatzes unterliegt der Prüfung, ob der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Dieser Prüfung hält der streitige Bedarfssatz nicht stand. Eine den vorgenannten Anforderungen gerecht werdende Festsetzung kann unter anderem deshalb nicht nachvollzogen werden, weil das gewählte Berechnungsverfahren im Unklaren lässt, zu welchen Anteilen der Pauschalbetrag auf den Lebensunterhalt einerseits und die Ausbildungskosten andererseits entfällt und diese abdecken soll. Zudem fehlt es an der im Hinblick auf die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten gebotenen zeitnahen Ermittlung des entsprechenden studentischen Bedarfs. Hier lag der Festsetzung aus dem Jahre 2010, die bis 2016 galt, eine Erhebung aus dem Jahr 2006 zugrunde.

Strukturelle BAföG-Reform

Die BAföG-Novellierungen der vergangenen Jahre holten nicht auf, so das DSW, was man in der Vergangenheit versäumt habe. 2012 gab es 671.000 BAföG-geförderte Studierende; 2019 waren es noch 489.000. Deshalb fordert das DSW, die Elternfreibeträge so schnell wie möglich um weitere 15 Prozent zu erhöhen.

Das DSW fordert eine grundlegende, strukturelle BAföG-Reform:

  • BAföG an die Lebens- und Studienrealität anpassen
  • die Förderungshöchstdauer nicht mehr an die Regelstudienzeit koppeln
  • Altersgrenzen weg
  • Förderung in Richtung Vollzuschuss.

Bundesverfassungsgericht muss entscheiden

Weil das Bundesverwaltungsgericht als Fachgericht nicht befugt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen, hat es das Revisionsverfahren ausgesetzt und die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Quellen. Bundesverwaltungsgericht, DGB, Deutsches Studentenwerk

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Kein Ende des Transsexuellengesetzes

Das Transsexuellengesetz ist mittlerweile 40 Jahre alt. Seitdem hat das Bundesverfassungsgericht einzelne Vorschriften des Gesetzes bereits sechs Mal für verfassungswidrig erklärt. Auch weitere Vorschriften des TSG stehen verfassungsrechtlich in der Kritik, wie der psycho-pathologisierende Begutachtungszwang.

Verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober 2017 den Gesetzgeber dazu aufgefordert, bis Ende 2018 eine Neuregelung des Personenstandsrechts auf den Weg zu bringen, eine dritte Option beim Geschlechtseintrag einzuführen oder gänzlich auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, 1 BvR 2019/16). In seiner Urteilsbegründung wird die Selbstbestimmung als Persönlichkeitsrecht eines Menschen klar in den Vordergrund gestellt.

Die CDU/SPD Koalition ist bisher an dem Vorhaben gescheitert. Dafür legten FDP und Grüne jeweils einen Gesetzentwurf vor.

Gesetzentwurf der FDP

Die FDP-Fraktion will mit ihrem Gesetzentwurf „zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung“ (19/20048) das aktuelle Transsexuellengesetz und den Paragrafen 45b des Personenstandsgesetzes abschaffen und durch ein „Gesetz zur Selbstbestimmung über die Geschlechtsidentität“ ersetzen. Wie die Fraktion ausführt, haben Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen, in Deutschland die Möglichkeit, sich medizinisch und juristisch einer Transition zu unterziehen.

Das juristische Änderungsverfahren werde durch das 1981 in Kraft getretene Transsexuellengesetz normiert, das zwei Optionen für Menschen vorsehe, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt: die Änderung des Namens sowie die formelle Änderung der Geschlechtszugehörigkeit über den Personenstand. Voraussetzung für die Änderung des Namens seien nach derzeitiger Rechtslage zwei Gutachten von Sachverständigen, die mit diesem Gebiet ausreichend vertraut und voneinander unabhängig tätig sind.

Zugleich verweisen die Abgeordneten darauf, dass es seit 2018 Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung in Deutschland möglich sei, über den Paragraf 45 b des Personenstandsgesetzes Vornamen und Geschlechtseintrag der eigenen Geschlechtsidentität entsprechend anzupassen. Laut Bundesregierung und Urteil des Bundesgerichtshofs (XII ZB 383/19) sei die Anwendung dieses Paragrafen jedoch auf intergeschlechtliche Personen beschränkt.

Gesetzentwurf der Grünen

Wie die Fraktion ausführt, hat das Parlament mit der Änderung des Personenstandsgesetzes Anfang 2019 eine dritte Option beim Geschlechtseintrag („divers“) geschaffen, doch sei beanstandet worden, dass „die Entscheidung über den Geschlechtseintrag von der Vorlage eines ärztlichen Attestes abhängig gemacht wird“. Zudem bleibe unklar, „ob das Gesetz transsexuelle, transgeschlechtliche und transidente Menschen ausschließt, die sich immer noch durch das unwürdige Verfahren nach dem Transsexuellengesetz quälen müssen“.

Das Transsexuellengesetz stelle für die Änderung der Vornamen und die Berichtigung des Geschlechtseintrages entsprechend der selbst bestimmten Geschlechtsidentität „unbegründete Hürden auf, die das Selbstbestimmungsrecht in menschenunwürdiger Weise beeinträchtigen“. Darüber hinaus verweisen die Abgeordneten darauf, dass in Deutschland an intergeschlechtlichen Kindern immer noch genitalverändernde Operationen vorgenommen würden, „die medizinisch nicht notwendig sind“.

Dem Entwurf (19/19755) zufolge soll das Transsexuellengesetz durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt und im Personenstandsgesetz klargestellt werden, „dass alle Menschen eine Erklärung zur Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei einem Standesamt abgeben können“. Zudem soll das Selbstbestimmungsgesetz genitalverändernde chirurgische Eingriffe bei Kindern verbieten sowie unter anderem „einen Anspruch auf Achtung des Selbstbestimmungsrechts bei Gesundheitsleistungen“ statuieren, Bund, Länder und Kommunen zum Ausbau der bisherigen Beratungsangebote verpflichten und eine „Regelung für trans- und intergeschlechtliche Eltern“ einführen.

Es bleibt alles beim Alten

Beide Gesetzentwürfe wurden von CDU, SPD und der AfD abgelehnt. Von der AfD, die in der Bundestagssitzung wieder eindringlich ihre Pöbelqualität unter Beweis stellte, und der CDU war nichts anderes zu erwarten. Die CDU glänzt dabei wieder mit ihrer Blockadehaltung, mit dem Hinweis, der politische Meinungsbildungsprozess sei „noch nicht abgeschlossen“. Vierzig Jahre nach der ersten und fünf Jahre nach der letzten Klatsche durch das Bundesverfassungsgericht.

Koalitionszwang, Fraktionszwang

Die SPD beruft sich auf den Koalitionszwang. Ihr sei es nicht gelungen mit der CDU einen guten Entwurf auszuhandeln. Das werde sie in der nächsten Legislaturperiode nachholen. Zwar seien die Gesetzentwürfe von FDP und Grüne schon Verbesserungen, aber es sei halt noch nicht gut genug. Also werde sie lieber aus Koalitionsgründen eine Verbesserung ablehnen.

Viele SPD-Abgeordnete würden wohl liebend gerne in diesem Punkt mit FDP/Grüne stimmen; das ist wegen des Fraktionszwangs und um eine Koalition, die faktisch sowieso am Ende ist, zu unterstützen, wohl nicht möglich.

GG Artikel 38

Der Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Er lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Antrag auf Entschädigung

Der Antrag der Linksfraktion, dass Entschädigungszahlungen an trans- und intergeschlechtliche Menschen gezahlt werden, an denen fremdbestimmte normangleichende Genitaloperationen durchgeführt wurden, wurde dagegen angenommen. In ihrem Antrag (19/17791) fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, innerhalb eines Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Zudem solle die Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit einem Gutachten zur Aufarbeitung menschenrechtswidriger medizinischer Eingriffe aufgrund des Transsexuellengesetzes beauftragt werden.

Die Linksfraktion verweist darauf, dass im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zum „Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen“ die fremdbestimmte Durchführung von normangleichenden Genitaloperationen nun weitgehend verboten werden soll. Im Zusammenhang mit diesem geplanten Verbot sei es notwendig, begangenes Unrecht aufzuarbeiten und zu entschädigen. So seien zwischen 1981 und 2011 gemäß des Transsexuellengesetzes operative Eingriffe an den äußeren Geschlechtsmerkmalen sowie Sterilisationen vorgenommen worden. Nach Schätzungen des Bundesverbandes Trans* seien mehr als 10.000 Menschen in Deutschland zwangsweise sterilisiert worden.

Quelle: Bundestag

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Lieferketten und Kinderrechte

Am 17. Mai fand eine öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung über ein „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ statt.

Ziel

Die Bundesregierung will Unternehmen verpflichten, menschenrechtliche Standards in all ihren globalen Produktionsstätten einzuhalten. Die Verantwortung der Unternehmen soll sich auf die gesamte Lieferkette erstrecken, abgestuft nach den Einflussmöglichkeiten. Die Pflichten sollen durch die Unternehmen in ihrem eigenen Geschäftsbereich sowie gegenüber ihren unmittelbaren Zulieferern umgesetzt werden. Mittelbare Zulieferer sollen einbezogen werden, sobald das Unternehmen über substanzielle Kenntnisse von Menschenrechtsverletzungen auf dieser Ebene verfügt. Die Unternehmen werden verpflichtet, eine menschenrechtliche Risikoanalyse durchzuführen, Präventions- und Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, Beschwerdemöglichkeiten einzurichten und über ihre Aktivitäten zu berichten.

Freiwillige Selbstverpflichtung reicht nicht

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Bedeutung der Unternehmensverantwortung bei transnationalen Aktivitäten stetig gestiegen. 2011 hat die Weltgemeinschaft mit den VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte erstmals einen globalen Verhaltensstandard für Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte in Lieferketten geschaffen. Die dort verankerten, rechtlich nicht bindenden Sorgfaltspflichten auf dem Gebiet der Menschenrechte sind in die wesentlichen Rahmenwerke der ILO und der OECD zur verantwortungsvollen Unternehmensführung eingeflossen. Gleichzeitig bilden sie die Grundlage für den Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und
Menschenrechte (Nationaler Aktionsplan), den die Bundesregierung 2016 beschlossen hat. Im Zuge der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans ist deutlich geworden, dass eine freiwillige Selbstverpflichtung nicht ausreicht, damit Unternehmen ihrer menschenrechtlichen Sorgfalt angemessen nachkommen. Deshalb ist eine gesetzliche Verankerung mit behördlichen Durchsetzungsmechanismen geboten.

Nur Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten

Das Lieferkettengesetz sieht vor, ab 2023 Unternehmen ab 3000 Beschäftigten zu verpflichten, menschenrechtliche Risiken in ihren Lieferketten zu analysieren, Beschwerdemöglichkeiten einzurichten und über ihre Aktivitäten zu berichten. Der Anwendungsbereich soll dabei schrittweise auf Unternehmen ab 1000 Beschäftigten ausgeweitet werden.

Nicht die ganze Lieferkette betroffen

Der aktuelle Regierungsentwurf verpflichtet Großunternehmen lediglich dazu, menschenrechtliche Risiken in ihren eigenen Betrieben und bei ihren direkten Zulieferern zu bewerten und auf solche Risiken zu reagieren. Bei Zulieferern, die weiter unten in der Lieferkette angesiedelt sind, sieht das Gesetz vor, dass Unternehmen nur eine „anlassbezogene“ menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung durchführen müssen, sobald sie „substantiierte Kenntnisse“ von potenziellen Menschenrechtsverletzungen haben. Damit fällt der Entwurf hinter die Empfehlungen der EU-Kommission zur Sorgfalts- und Rechenschaftspflicht für Unternehmen zurück, in denen auch die Berücksichtigung branchenspezifischer Leitlinien gefordert wird.

Kinderarbeit am Beginn der Kette

Unicef und andere Kinderrechtsorganisationen (Kindernothilfe, Plan International Deutschland, Save the Children) betonen in einem gemeinsamen Appell, die Größe eines Unternehmens sei nicht in jedem Fall aussagekräftig. Auch kleinere Unternehmen in Risikobranchen, wie dem Textilsektor oder in der Landwirtschaft, können zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden beitragen. Daher ist aus kinderrechtlicher Sicht ein risikobasierter Ansatz zielführender als die ausschließliche Konzentration auf die Größe der Unternehmen.

Die meisten der Rechtsverletzungen, darunter auch Kinderarbeit, finden am Beginn der Wertschöpfungskette statt, wie in Minen und in der Landwirtschaft. Deshalb sollte ein Sorgfaltspflichtengesetz den gesamten Lebenszyklus eines Produkts oder einer Dienstleistung und deren umfassende Wertschöpfung einbeziehen.

Quelle: Bundestag, Unicef

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Armuts- und Reichtumsbericht

Das Bundeskabinett hat den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht (6. ARB) beschlossen. Damit kommt die Bundesregierung dem Auftrag des Deutschen Bundestags nach, in jeder Legislaturperiode einen Bericht über die Entwicklung von Armut und Reichtum vorzulegen.

Stabile soziale Lage

Das Bundesarbeitsministerium schreibt dazu, der Bericht zeige, dass der überwiegende Teil der Menschen in stabilen sozialen Lagen lebe. Es bestünden gute Aufstiegschancen aus der Mitte nach Oben. Problematisch sei die Verfestigung in den unteren sozialen Lagen, aus denen es im Zeitablauf immer weniger Personen gelungen sei, aufzusteigen.

Armutsquote kaum verändert

Nachdem die Armut in Deutschland lange Zeit zunahm, hat sie sich mittlerweile um 16 Prozent der Bevölkerung eingependelt. Dabei gibt es allerdings unterschiedliche Befunde zur Entwicklung seit 2014. Einigen Statistiken zufolge sinkt die Armutsquote, ein anderer Indikator weist aufwärts. 

Dass die Armut seit dem Jahr 2000 zunahm, lag unter anderem an den Hartz-Gesetzen. Die Trendwende basiert nicht zuletzt auf der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. 

Arm und reich

Auch die Kluft zwischen arm und reich ist gewaltig. So besitzen 1 Prozent der Deutschen 35 Prozent des privaten Vermögens. Das sind 3,6 Billionen Euro. Zum Vergleich: Finanzminister Scholz schätzt die Folgekosten der Corona-Pandemie auf 1,5 Billionen Euro.

Pandemie-Folgen

Hinsichtlich der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie deuten die vorliegenden Befragungs- bzw. erste Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Sozialschutzpakete bislang negative Verteilungseffekte weitgehend vermieden haben und durch die Regelungen des Kurzarbeitergeldes die Beschäftigung gesichert werden konnte. Langfristig gilt es aber, die Bereiche Bildung und Betreuung besonders im Blick zu behalten, da sich hier in den Belastungen sozioökonomische Unterschiede gezeigt haben.

Überprüfen und Anregen

Der Bericht dient dazu, die Lebenslagen der Bürgerinnen und Bürger zu analysieren, die Wirksamkeit der bisherigen Politikansätze zu überprüfen und neue Maßnahmen anzuregen. Die soziale Lage in Deutschland wird dafür ausführlich beschrieben. Zugrunde liegen die vorliegenden Statistiken und eigens für den Bericht in Auftrag gegebene Forschungsvorhaben. Die aktuellen Daten bewertet der Bericht mit Blick auf die Entwicklung der sozialen Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken innerhalb der Biographie und – soweit möglich – auch im Vergleich zu früheren Alterskohorten und Generationen.

Quelle: BMAS, Frankfurter Rundschau

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