Ausgestaltung der Bezahlkarte ist rechtswidrig

Dies hat das Sozialgericht Hamburg am 18. Juli festgestellt.

Das SG Hamburg hat am 18. Juli 2024 im einstweiligen Verfahren vorläufig die Erhöhung der Bargeldgrenze auf der Hamburger Bezahlkarte (SocialCard), alternativ die Barauszahlung des Mehrbedarfs (hier Schwangerschaft) bzw. von Mehrbedarfserhöhungen (hier unter 3jähriges Kind in einer Erstaufnahmeeinrichtung) beschlossen.

Unterschiedliche Lebenslagen

Mit der Einführung der Hamburger SocialCard für Asylbewerber in Erstaufnahmeeinrichtungen ist die Beschränkung von Bar-Auszahlungen der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verbunden. Das Sozialgericht Hamburg hat in seinem Beschluss im einstweiligen Verfahren entschieden, dass die Einführung der Hamburger SocialCard auf gesetzlicher Grundlage stehe und als Bezahlkarte nicht per se unwürdig sei. Lediglich die Ausgestaltung der Bezahlkarte sei rechtspolitisch umstritten. Die Art der Leistung stehe im Ermessen der Behörde. Die Behörde habe dabei den örtlichen Besonderheiten und unterschiedlichen Lebenslagen Rechnung zu tragen.

Starre Obergrenze

Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes sei aber deutlich, dass eine starre Obergrenze des auszahlungsfähigen Bargeldes eine Einzelfallbetrachtung nicht ermögliche, um örtliche Besonderheiten und unterschiedliche Lebenslagen der leistungsberechtigten Personen zu berücksichtigen. Es sei deshalb eine Einzelfallbetrachtung erforderlich. Das Gericht sei nicht berufen, der Verwaltung hier einen bestimmten Weg vorzugeben. Für eine individuelle Bedarfsdeckung sei es aber geboten und praktikabel, dass sich jedenfalls anerkannte Mehrbedarfe bzw. Bedarfserhöhungen der Antragsteller in einem erhöhten Bargeldbetrag für die Zeit des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung niederschlagen.

Bürokratischer Irrsinn

„Die Bezahlkarte in Hamburg erschwert den Alltag der Betroffenen massiv. Geflüchtete können sich kaum angemessen versorgen. Günstige Onlineeinkäufe oder private Gebrauchtwareneinkäufe sind mit der Bezahlkarte ebenso wenig möglich wie der Abschluss eines Handyvertrages oder die Anmeldung im Sportverein; auch akzeptiert nicht jeder Laden die Bezahlkarte. Dass diese Unterversorgung verfassungswidrig ist, zeigt die Eilentscheidung. Die Entscheidung zeigt auch, welcher bürokratischer Irrsinn auf die Kommunen zukommt, die eine Bezahlkarte einführen wollen. Sie sollten sich dreimal überlegen, ob sie sich diese Mehrbelastung ihrer Verwaltung wirklich leisten können“, erklärt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Quellen: Sozialgericht Hamburg, freiheitsrechte.org

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Unmittelbar vor Beginn

„Unmittelbar vor Beginn“ heißt nicht am Tag zuvor. Das entschied das hessische Landessozialgericht im Falle arbeitslosen Frau, die eine Reha-Maßnahme antreten wollte.

Anspruch auf Übergangsgeld

Während einer stationären Rehabilitation haben Versicherte gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Anspruch auf Übergangsgeld. Voraussetzungen ist, dass sie unmittelbar vor Beginn der medizinischen Leistung Arbeitslosengeld oder eine vergleichbare Leistung bezogen haben und Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind. Rechtsgrundlagen sind

Neun Tage

Eine 54jährige Frau bezog bis Mitte April 2015 Arbeitslosengeld. Neun Tage später beiwilligte die Rentenversicherung medizinische Rehabilitation, welche nach weiteren fünf Wochen durchgeführt wurde. Die Gewährung von Übergangsgeld für die Zeit der Reha-Maßnahme lehnte die Rentenversicherung ab. Die Frau habe nicht unmittelbar vor Beginn der Reha-Maßnahme Arbeitslosengeld oder eine entsprechende Sozialleistung bezogen. Die Frau machte geltend, dass sie auf den Beginn der Reha keinen Einfluss gehabt habe.

Unmittelbarkeit sei aber auch dann gegeben, wenn zwischen dem Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld und der Bewilligung der Reha-Maßnahme neun Tage liegen, so der 2. Senat des Hessischen Landessozialgerichts. Er verurteilte die Rentenversicherung, der Frau Übergangsgeld für die Zeit der medizinischen Reha-Maßnahme zu gewähren. 

kein nahtloser Übergang erforderlich

Der Begriff „unmittelbar vor Beginn“ erfordere keinen nahtlosen Übergang. Bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs seien Systematik sowie Sinn und Zweck der Gesamtregelung zu berücksichtigen. Das Übergangsgeld solle während einer Reha die Entgelt- und Einkommensverhältnisse aufrechterhalten. Ein zeitlicher Abstand von vier Wochen zwischen dem Ende des früheren Leistungsbezuges und dem Beginn der Reha-Maßnahme sei regelmäßig unschädlich.

Versicherte haben keinen Einfluss

Vorliegend komme es zudem nicht auf den Beginn der Reha-Maßnahme an. Maßgeblich sei vielmehr, wann die Rentenversicherung diese bewilligt habe. Denn die Versicherten hätten regelmäßig keinen Einfluss darauf, wann sie die Reha-Maßnahme antreten könnten. Es hätte an der Rentenversicherung gelegen, der Frau unverzüglich nach der Bewilligung auch einen Platz in einer Reha-Klinik zu beschaffen.

Eine Revision wurde nicht zugelassen.

Quelle: Sozialgerichtsbarkeit Hessen

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Coronazuschlag für alle Sozialhilfeempfänger

Für die Bezieher von Leistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme (SGB II, SGB XII, BVG, Asylbewerberleistungsgesetz) soll es auch dieses Jahr einen Coronazuschlag in Höhe von 100 Euro geben, eventuell auch 200 Euro nach den Plänen des neuen Entlastungspakets. Letztes Jahr waren es im Rahmen des Sozialschutzpakets 150 Euro, die allen Beziehern dieser Leistungen zustand.

Vergessene Gruppe

Allen? Nein. Eine Gruppe wurde nicht berücksichtigt. Nach dem Wortlaut des entsprechenden Gesetz (§ 144 SGB XII) sind alle, die Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel haben, anspruchsberechtigt. Also Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Keinen Anspruch haben Menschen die Leistungen nach dem Siebten Kapitel, also Hilfe zur Pflege, beziehen.

Rangfolge bei der Einkommensanrechnung

Etliche Bewohner und Bewohnerinnen von Pflegeheimen und anderen vollstationären Einrichtungen, die über Einkommen wie Rente verfügen, sind trotz Einkommen auf Leistungen nach dem SGB XII angewiesen, entweder für den Lebensunterhalt oder für die Heimkosten oder für beides. Gängige Praxis ist, auch vom Bundessozialgericht für rechtens befunden, dass das Einkommen zunächst auf den Bedarf bei der Hilfe zum Lebensunterhalt angerechnet wird. Ist der Bedarf gedeckt, bleiben noch die Pflegeheim-Kosten, wofür dann die Hilfe zur Pflege, Kapitel 7 SGB XII, aufkommt. Damit fallen diese Personen aber aus dem Kreis der Berechtigten für den Coronazuschlag heraus.

Kein Unterschied bei Einkommen und Leistungen

Dabei bleibt bei den Betroffenen die Summe aus Einkommen und Sozialleistungen genau gleich. Würde das Einkommen zunächst bei der Hilfe zur Pflege berücksichtigt, hätten sie Anspruch auf Leistungen nach Kaptel 3 oder 4 und damit auf den Coronazuschlag.

Sozialgericht Freiburg

Um dies Ungerechtigkeit ging es bei einem Gerichtsverfahren vor dem Sozialgericht Freiburg. Ergebnis: Auch Bewohner und Bewohnerinnen von Pflegeheimen und anderen vollstationären Einrichtungen, die Sozialhilfe nur für die ungedeckten Pflegeheimkosten beziehen, haben Anspruch auf die im Mai 2021 fällige Einmalzahlung von 150 € aus Anlass der COVID-19-Pandemie. Diese dürften alle rückwirkend einen Anspruch für 2021 haben.

Rückwirkend und aktuell

Für 2021 müssten sie diesen Anspruch noch dieses Jahr geltend machen. In Bezug auf die Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII (Sozialhilfe) muss dafür nich tein gesonderter Antrag gestellt werden. Eine Geltendmachung beim Sozialamt müsste ausreichen. Diese Regelung ist natürlich auch auf die Coronazuschläge im Jahr 2022 anzuwenden.

Grundsätzliche Bedeutung

Allerdings ist das Urteil noch nicht rechtskräfig. Das Gericht hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung eine Berufung zugelassen.

Quelle: Tacheles e.V., Rechtsanwälte für Sozialrecht (sozialrecht-fr.de), Sozialgericht Freiburg, FOKUS-Sozialrecht

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Sozialgericht Karlsruhe legt nach

Das Sozialgericht Karlsruhe hatte am 11.02.2021 entschieden, dass das Jobcenter einem Arbeitssuchenden zusätzlich zum Regelsatz entweder als Sachleistung wöchentlich 20 FFP2-Masken zuschicken oder als Geldleistung hierfür monatlich weitere 129,- € zahlen müsse.

In der Folge gab es gegenteilige Urteile vom

Arroganz der Gutprivilegierten

Die Begründungen ähneln sich. Masken seien billig, können wiederverwendet werden, es reichten ja auch OP-Masken (die Gesundheit von Hartz IV-Empfängern ist demnach nicht so wichtig), 10 Euro im Monat würden ausreichen, das könne bei Lebensmitteln oder durch weniger gesellschaftliche Teilhabe, die sei ja sowieso eingeschränkt, eingespart werden. Harald Thome von Tacheles e. V. schreibt dazu in seinem Newsletter treffend: „Mit der Arroganz der Gutprivilegierten werden die Anträge auf pandemische Zuschläge durch die Bank weggewischt.“

Das Sozialgericht Karlsruhe hat nun in einem weiteren Urteil klargemacht, dass der Corona-Zuschuss aus dem Sozialschutzpaket III zu gering und verfassungswidrig ist.

Leitsatz

Im Leitsatz des Urteils schreibt das Gericht, der mit dem Sozialschutzpaket III eingeführte § 70 SGB II sei unbeachtlich, da er gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstoße. § 70 SGB II komme sowohl nach dem subjektiven Willen des Bundesgesetzgebers als auch nach Maßgabe einer objektiven Auswertung der durch das Coronavirus SARS-Cov-2 bedingten Veränderungen der Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte eine existenzsichernde
Funktion zu.

  • Im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsmaßstäben ist den BT-Drucksachen zu § 70 SGB II in verfassungswidriger Weise nicht ansatzweise zu entnehmen, warum eine Einmalzahlung für den Monat Mai 2021 in Höhe von 150,- € den Mehrbedarf aufgrund der COVID-19-Epidemie für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 decken sollte.
  • Ferner werde das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG auch verletzt, weil § 70 SGB II n. F. in seiner künftigen Gestalt ohne hinreichenden Grund für die bereits in den Leistungsmonaten Januar 2021 bis April 2021 gegebenen Mehrbedarfe lediglich eine nachträgliche Leistungsgewährung im Mai 2021 vorsehe, obgleich es sodann wegen des zwischenzeitlichen Zeitablaufs evidenter Maßen schon zu spät sein werde, die Leistungen noch zweckentsprechend einzusetzen.
  • Des Weiteren verletze § 70 SGB II n. F. den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die Monate Januar 2021 bis April 2021 sowie Juni 2021 auch deswegen, weil in aus einem nicht verfassungslegitimen Grund die Leistungsgewährung existenzsichernder Mittel nicht nur vom Ausmaß der aktuellen Hilfebedürftigkeit abhängen solle, sondern auch davon, ob diese zu einem späteren bzw. früheren Zeitpunkt – nämlich: im Mai 2021 – vorliegen werde.
  • Schließlich verletze § 70 SGB II n. F. auch das allgemeine Gleichheitsgrundrecht, da kein Grund solcher Art und solchen Gewichts ersichtlich ist, der eine Diskriminierung von Grundsicherungsempfänger:innen rechtfertigt, welche im Mai 2021 aufgrund irgendwelcher Zufälligkeiten nicht im grundsicherungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind und infolgedessen vom Schutzbereich der Norm nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut auch in den übrigen Kalendermonaten der ersten Jahreshälfte des Jahres 2021 gänzlich ausgeschlossen würden.

27 Seiten Begründung

Auf einer 27 Seiten langen Begründung benennt das Gericht weitere Belastungen, die die Leistungsempfänger zur Zeit zu tragen haben. Die aktuelle Pandemie führt zu höheren und längeren Bedarfsspitzen, die Hilfebedürftige nicht durch Minderausgaben in anderen Bereichen kompensieren können und für die keine Vorsorge betrieben werden konnte. Mehrkosten entstehen nicht nur durch Masken, sondern auch durch

  • Homeschooling,
  • teurere Lebensmittel,
  • Wegfall von Lebensmittelausgaben der Tafel,
  • ausgefallenes Schulessen,
  • gestiegene Stromkosten,
  • gestiegene Spritpreise
  • die Verringerung des verfügbaren Einkommens durch Jobverluste und Kurzarbeit,
  • Wegfall von Einnahmequellen „auf der Straße“ für darauf angewiesene Menschen (ob durch den Verkauf von Straßenzeitungen, Straßenmusik oder auch Bettelei).

Zugang zu den Lebenschancen

Grundsicherungsempfänger*innen bezögen existenzsichernde Leistungen, so die Karlsruher Richter, in aller Regel nicht aus Bequemlichkeit, sondern, weil sie aus individuellen und gesellschaftlichen Gründen keinen gleichen Zugang zu den Lebenschancen hätten, welche der – insofern privilegierte und in Teilen ignorante – Großteil der Bevölkerung für selbstverständlich halte.

Sozialpflichtigkeit

Das bundesdeutsche Verfassungsrecht sehe in Art. 1 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Art. 20 Abs. 1 GG die Sozialpflichtigkeit nicht bei den Menschen, die bereits am untersten Rand des Menschenwürdigen lebten, sondern bei denen, die über ausreichend Privateigentum verfügten, denn dessen Gebrauch solle zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, während die Würde des Menschen und das Prinzip des Sozialstaats unantastbar seien, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG.

Quelle: Sozialgericht Karlsruhe, juris, Tacheles e.V., FOKUS-Sozialrecht

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150 € einmalig oder 129 € im Monat?

Im Entwurf des dritten Sozialschutzpakets ist eine eine einmalige finanzielle Unterstützung in Höhe von 150 Euro je Person für das erste Halbjahr 2021 für alle erwachsenen Leistungsberechtigten der sozialen Mindestsicherungssysteme vorgesehen. Geplant ist, den Betrag im kommenden Mai auszuzahlen.

Armutspolitisches Trauerspiel

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält dies Regelung für ein „armutspolitisches Trauerspiel“. Nötig wäre stattdessen ein monatlicher Zuschuss für die Dauer der Krise, um die coronabedingten Mehrbelastungen auch nur annähernd auszugleichen. Die aktuellen Regelsätze in Hartz und Altersgrundsicherung reichten nicht einmal aus, um unabhängig von Corona die Grundbedarfe zu decken. Gemeinsam mit über 30 weiteren bundesweiten Verbänden und Gewerkschaften fordert der Verband eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro sowie für die Dauer der Krise einen pauschalen Mehrbedarfszuschlag von 100 Euro pro Monat.

Sozialgericht Karlsruhe

Passend dazu erreicht uns nun das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11.02.2021.

Sozialgericht Karlsruhe: Jobcenter muss nach erfolgreichem Eilantrag zusätzlich zum Regelsatz entweder als Sachleistung wöchentlich 20 FFP2-Masken verschicken oder als Geldleistung hierfür monatlich weitere 129,- € zahlen.

Mit diesem Beschluss hat die 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe dem Eilantrag eines Arbeitsuchenden auf Gewährung eines im Epidemie-bedingten Einzelfall unabweisbaren Hygienebedarfs an FFP2-Masken bis zum Sommeranfang am 21.06.2021 stattgegeben.

20 Masken wöchentlich oder 129 € im Monat

Sozialgericht Karlsruhe – Jobcenter muss nach erfolgreichem Eilantrag zusätzlich zum Regelsatz entweder als Sachleistung wöchentlich 20 FFP2-Masken verschicken oder als Geldleistung hierfür monatlich weitere 129,- € zahlen.

Die Kammer meint, ein besonderer Mehrbedarf an wöchentlich 20 FFP2-Masken sei glaubhaft gemacht. Ohne Mund-Nasen-Bedeckungen dieses Standards seien Empfänger:innen von Grundsicherungsleistungen in ihrem Grundrecht auf soziale Teilhabe in unverhältnismäßiger Weise beschränkt. Nach drei Monaten Lockdown müssten Arbeitsuchende wieder am Gemeinschaftsleben in einer dem sozialen Existenzminimum entsprechenden Art und Weise teilnehmen können.

Infektionsschutz der Allgemeinheit

Die Anerkennung individueller Mehrbedarfe an FFP2-Masken diene nicht nur der Befriedigung privater Bedürfnisse. Sie bezwecke den Infektionsschutz der Allgemeinheit vor einer weiteren Verbreitung des Virus. Zur effektiven Abwehr dieser gesteigerten Ansteckungsgefahr müsse die Mehrbedarfsgewährung wöchentlich 20 FFP2-Masken umfassen. Dem Infektionsschutz werde ein Bärendienst erwiesen, falls nicht mindestens täglich eine neue Maske sowie durchschnittlich ca. zwei weitere neue Ersatz-FFP2-Masken bereitgestellt würden. Es sei davon auszugehen, dass wenige Personen bereit und fähig seien, fortlaufend zuverlässig die sehr hohen Sorgfaltsanforderungen an die private Wiederverwendung von FFP2-Masken zu erfüllen. Diese seien zum Einmalgebrauch für geschultes Medizinpersonal konstruiert. Ohne die Beachtung der zum Trocknen notwendigen Hygiene-Routinen würden ggfs. über mehrere Tage und Wochen hinweg für den Infektionsschutz ungeeignete oder sogar virushaltige Masken getragen. Diese erweckten nur den falschen Anschein des Infektionsschutzes. Der massenhaft irreführende Anschein der Verwendung pandemie-adäquater FFP2-Masken wäre aber dem Infektionsschutz nicht zu-, sondern abträglich.

Infektionsschutz und soziale Teilhabe

Eine sachangemessene Bemessung des Bedarfs an FFP2-Masken folgt richtigerweise anhand einer Gefahrenabwehrprognose. Nach deren Ergebnis ist glaubhaft, dass die Bereitstellung von wöchentlich 20 neuen FFP2-Masken geeignet, erforderlich und angemessen ist, um dem Risiko einer weiteren Verbreitung von SARS-Cov-2 durch Arbeitsuchende sachangemessen entgegenzuwirken. Erst die Verfügungsmöglichkeit über FFP2-Masken in einer solchen Anzahl und Regelmäßigkeit versetzt Arbeitsuchende mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in die Lage, in zumutbarer Weise am Infektionsschutz mitzuwirken. Es spricht mehr dafür als dagegen, dass sie mithilfe von wöchentlich 20 neuen FFP2-Masken im Rahmen einer pandemieadäquaten sozialen Teilhabe sowohl sich als auch andere davor schützen können, respiratorisch virushaltige Partikel beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen aufzunehmen und auszustoßen.

Warum 20?

Über diese durchschnittlich an jedem beliebigen Tag (und mithin wöchentlich sieben) erforderlichen FFP2-Masken hinaus bedürfen Arbeitsuchende mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durchschnittlich anlässlich jedes Maskengebrauchs zwei weitere neue FFP2-Masken, um für den Fall ihres Funktionsverlusts durchschnittlich zwei Mal täglich (bzw. abgerundet ca. 13 Mal wöchentlich) eine Ersatz-FFP2-Maske sofort aufsetzen zu können. Es spricht mehr dafür als dagegen, dass FFP2-Masken bei jedem Einsatzanlass durchschnittlich ca. zwei Mal funktionslos und ersatzbedürftig werden. Es ist glaubhaft gemacht, dass Arbeitsuchende im Durchschnitt sehr häufig beim privaten Gebrauch von FFP2-Masken den sehr hohen Sorgfaltsanforderungen genügen werden, weil ein ihre Infektionsschutzwirkung erhaltender Gebrauch ganz außerordentlich anspruchsvoll ist.

Preis aus dem Online-Handel

Die im Falle der Erbringung als Geldleistung fällige Höhe des Mehrbedarfs schätzt das Gericht auf der Grundlage von § 202 SGG i.V.m. § 287 Abs. 2 ZPO auf 129,- EUR monatlich, ohne dass es hierbei die schwankende Anzahl von Monatstagen berücksichtigen dürfte (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Hierbei legt die Kammer die im Online-Handel diesbezüglich derzeit vorliegenden Angebote zugrunde. Es scheint hiernach überwiegend wahrscheinlich, in der Größenordnung von 20 Exemplaren zum Stückpreis von 1,50 EUR FFP2-, KN95- und N95- Corona-Schutzmasken auch ohne zusätzliche Lieferkosten beschaffen zu können. Bei durchschnittlich 4,3 Wochen je Kalendermonat resultiert rechnerisch ein Mehrbedarf an 86 FFP2-Masken zu einem geschätzten Gesamtpreis von 129,- EUR.

Quelle: Sozialgericht Karlsruhe, Paritätischer Wohlfahrtsverband

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Computer als Mehrbedarf

Wer zum schon einmal einen Antrag auf  Hartz IV gestellt hat, kennt die vielen Formulare, die auszufüllen sind. Der Hauptantrag: sechs Seiten. Die Ausfüllhilfe dazu: zwölf Seiten. Diverse Anlagen kommen noch dazu – etwa die über Einkommensverhältnisse, Kosten der Unterkunft und eventuell Kinder oder „weitere erwerbstätige Personen“. Er hat über den Unterschied zwischen Haushaltsgemeinschaft und Bedarsfgemeinschaft gerätselt und kennt die Sorgen, wie man alle nötigen Bescheinigungen zusammen bekommen soll.
Dazu kommt noch, dass diese Prozedur alle 6 bis 12 Monate wiederholt werden muss, oder auch zwischendurch, wenn man einen besonderen Bedarf hat.

Um so ärgerlicher ist es, wenn gerade zusätzliche Bedarfe für Schüler, es geht hauptsächlich um Computer, immer wieder von den Jobcentern zunächst nicht anerkannt werden, so dass die betroffenen Hilfeempfänger gezwungen sind, den nervenaufreibenden und langen Weg zu den Sozialgerichten zu gehen. Die Sozialgerichte heben dann in der Regel die Entscheidungen der Jobcenter auf.

Da könnte man entweder auf die Idee kommen, dass die Mitarbeiter in den Jobcentern nicht genügend über die aktuelle Rechtsprechung informiert sind. Oder hofft man etwa, dass sich möglichst viele nicht trauen, die Gerichte anzurufen?

Urteil Sozialgericht Mannheim

Aktuell hat das Sozialgericht Mannheim entschieden, dass ein Grundsicherungsempfänger, der die Oberstufe eines Gymnasiums besucht, Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines Computers oder Laptops als Mehrbedarf hat. Das Gericht hat den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Mehrbedarf in Höhe von maximal 300 Euro zum Erwerb eines Computers bzw. Laptops zu gewähren.

Konkret geht es bei diesen Rechtsstreitigkeiten um die Auslegung de § 21 Absatz 6 des SGB II: „Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht.“ Hier sorgt das Wort „laufender“ vermutlich für Irritationen. Der PC wird zwar in der Schule „laufend“ gebraucht, es handelt sich aber nur um eine einmalige Ausgabe.

So erläutert das Sozialgericht Mannheim denn auch, dass ein direkter Anspruch aus dieser Norm nicht möglich sei, weil es sich bei den Kosten nicht um einen laufenden Bedarf handele. Es konstatiert daher im Normengefüge des SGB II eine planwidrige Regelungslücke, deren Schließung eine analoge Anwendung von § 21 Abs. 6 SGB II notwendig mache. Aus keiner der Anspruchsgrundlagen des SGB II ergebe sich ein direkter Anspruch des Klägers auf Gewährung der Kosten. Sie seien nicht hinreichend vom Regelbedarf umfasst und könnten nicht durch Ansparungen aus diesem bestritten werden. Die Kosten werden nicht durch die sog. „Schulbedarfspauschale“ nach § 28 Abs. 3 SGB II gedeckt. Deswegen stehe dem Schüler ein Anspruch auf Leistungen für die Anschaffung zur Erfüllung der schulischen Anforderungen nach § 21 Abs. 6 SGB II analog zu. 

weitere Urteile

Es ist dies wie gesagt nicht das erste Mal, dass eine Entscheidung der Sozialgerichte so ausgefallen ist, zum Beispiel:

Konsequenzen?

Um das ganze Hartz 4 geschehen stressfreier zu gestalten, gäbe es einige Möglichkeiten:

  • der Gesetzgeber könnte die Mehrbedarfsnorm anpassen,
  • die Jobcenter könnten mehr Sozialgerichtsurteile lesen,
  • die Antragsflut könnte vereinfacht werden.

Oder man könnte über eine Abschaffung des Hartz 4 – Systems und über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken.

Quellen: juris, DGB, Haufe, Rechtsprechung-im-Internet.de

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