Sozialgericht Karlsruhe legt nach

Das Sozialgericht Karlsruhe hatte am 11.02.2021 entschieden, dass das Jobcenter einem Arbeitssuchenden zusätzlich zum Regelsatz entweder als Sachleistung wöchentlich 20 FFP2-Masken zuschicken oder als Geldleistung hierfür monatlich weitere 129,- € zahlen müsse.

In der Folge gab es gegenteilige Urteile vom

Arroganz der Gutprivilegierten

Die Begründungen ähneln sich. Masken seien billig, können wiederverwendet werden, es reichten ja auch OP-Masken (die Gesundheit von Hartz IV-Empfängern ist demnach nicht so wichtig), 10 Euro im Monat würden ausreichen, das könne bei Lebensmitteln oder durch weniger gesellschaftliche Teilhabe, die sei ja sowieso eingeschränkt, eingespart werden. Harald Thome von Tacheles e. V. schreibt dazu in seinem Newsletter treffend: „Mit der Arroganz der Gutprivilegierten werden die Anträge auf pandemische Zuschläge durch die Bank weggewischt.“

Das Sozialgericht Karlsruhe hat nun in einem weiteren Urteil klargemacht, dass der Corona-Zuschuss aus dem Sozialschutzpaket III zu gering und verfassungswidrig ist.

Leitsatz

Im Leitsatz des Urteils schreibt das Gericht, der mit dem Sozialschutzpaket III eingeführte § 70 SGB II sei unbeachtlich, da er gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verstoße. § 70 SGB II komme sowohl nach dem subjektiven Willen des Bundesgesetzgebers als auch nach Maßgabe einer objektiven Auswertung der durch das Coronavirus SARS-Cov-2 bedingten Veränderungen der Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte eine existenzsichernde
Funktion zu.

  • Im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsmaßstäben ist den BT-Drucksachen zu § 70 SGB II in verfassungswidriger Weise nicht ansatzweise zu entnehmen, warum eine Einmalzahlung für den Monat Mai 2021 in Höhe von 150,- € den Mehrbedarf aufgrund der COVID-19-Epidemie für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 decken sollte.
  • Ferner werde das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG auch verletzt, weil § 70 SGB II n. F. in seiner künftigen Gestalt ohne hinreichenden Grund für die bereits in den Leistungsmonaten Januar 2021 bis April 2021 gegebenen Mehrbedarfe lediglich eine nachträgliche Leistungsgewährung im Mai 2021 vorsehe, obgleich es sodann wegen des zwischenzeitlichen Zeitablaufs evidenter Maßen schon zu spät sein werde, die Leistungen noch zweckentsprechend einzusetzen.
  • Des Weiteren verletze § 70 SGB II n. F. den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die Monate Januar 2021 bis April 2021 sowie Juni 2021 auch deswegen, weil in aus einem nicht verfassungslegitimen Grund die Leistungsgewährung existenzsichernder Mittel nicht nur vom Ausmaß der aktuellen Hilfebedürftigkeit abhängen solle, sondern auch davon, ob diese zu einem späteren bzw. früheren Zeitpunkt – nämlich: im Mai 2021 – vorliegen werde.
  • Schließlich verletze § 70 SGB II n. F. auch das allgemeine Gleichheitsgrundrecht, da kein Grund solcher Art und solchen Gewichts ersichtlich ist, der eine Diskriminierung von Grundsicherungsempfänger:innen rechtfertigt, welche im Mai 2021 aufgrund irgendwelcher Zufälligkeiten nicht im grundsicherungsrechtlichen Sinne hilfebedürftig sind und infolgedessen vom Schutzbereich der Norm nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut auch in den übrigen Kalendermonaten der ersten Jahreshälfte des Jahres 2021 gänzlich ausgeschlossen würden.

27 Seiten Begründung

Auf einer 27 Seiten langen Begründung benennt das Gericht weitere Belastungen, die die Leistungsempfänger zur Zeit zu tragen haben. Die aktuelle Pandemie führt zu höheren und längeren Bedarfsspitzen, die Hilfebedürftige nicht durch Minderausgaben in anderen Bereichen kompensieren können und für die keine Vorsorge betrieben werden konnte. Mehrkosten entstehen nicht nur durch Masken, sondern auch durch

  • Homeschooling,
  • teurere Lebensmittel,
  • Wegfall von Lebensmittelausgaben der Tafel,
  • ausgefallenes Schulessen,
  • gestiegene Stromkosten,
  • gestiegene Spritpreise
  • die Verringerung des verfügbaren Einkommens durch Jobverluste und Kurzarbeit,
  • Wegfall von Einnahmequellen „auf der Straße“ für darauf angewiesene Menschen (ob durch den Verkauf von Straßenzeitungen, Straßenmusik oder auch Bettelei).

Zugang zu den Lebenschancen

Grundsicherungsempfänger*innen bezögen existenzsichernde Leistungen, so die Karlsruher Richter, in aller Regel nicht aus Bequemlichkeit, sondern, weil sie aus individuellen und gesellschaftlichen Gründen keinen gleichen Zugang zu den Lebenschancen hätten, welche der – insofern privilegierte und in Teilen ignorante – Großteil der Bevölkerung für selbstverständlich halte.

Sozialpflichtigkeit

Das bundesdeutsche Verfassungsrecht sehe in Art. 1 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Art. 20 Abs. 1 GG die Sozialpflichtigkeit nicht bei den Menschen, die bereits am untersten Rand des Menschenwürdigen lebten, sondern bei denen, die über ausreichend Privateigentum verfügten, denn dessen Gebrauch solle zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, während die Würde des Menschen und das Prinzip des Sozialstaats unantastbar seien, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG.

Quelle: Sozialgericht Karlsruhe, juris, Tacheles e.V., FOKUS-Sozialrecht

Abbildung: mask-5503422_1280.jpg