Regelbedarf wird kleingerechnet

In einer Stellungnahme hat der Paritätische Wohlfahrtsverband den Referentenentwurf aus dem BMAS zur anstehenden Neuermittlung der Regelsätze in der Grundsicherung scharf kritisiert. Die ab 2021 vorgesehenen Leistungen seien

  • systematisch kleingerechnet,
  • lebensfern und
  • in keiner Weise bedarfsgerecht, wie insbesondere an den Leistungen für Kinder und Jugendliche deutlich werde.

Das Ziel der Grundsicherung, zumindest in bescheidenem Rahmen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, werde so deutlich verfehlt.

Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes

Die Stellungnahme erinnert an die Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgericht von 2010 und 2014:

  • „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ (9.2.2010).
  • Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 das Verfahren der Regelbedarfsermittlung lediglich als „derzeit noch vereinbar“ mit der Verfassung bewertet, dabei aber auch „Anpassungsbedarf im Zuge der nächsten Neuermittlung der Höhe der Regelbedarfe“ (23.7.2014) konstatiert.

Vom Warenkorb zum Statistikmodell

Bis 1989 wurden die Regelsätze für die damalige „Hilfe zum Lebensunterhalt“ durch einen Warenkorb ermittelt. Im Warenkorbmodell wurden bis dahin existenziell notwendige Waren bestimmt und preislich bewertet. Das daraus resultierende Ergebnis bildete dabei ab, was die beteiligten Sachverständigen nach ihrer Einschätzung für angemessen hielten, es hatte aber keinen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Der Wechsel zum Statistikmodell mit einer Bezugnahme auf die alle fünf Jahre erhobene Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes versprach dabei eine realitätsgerechtere Regelbedarfsermittlung. Das Statistikmodell hat aber eine grundlegende Schwäche: Durch das Statistikmodell wird die Frage danach, was ein Mensch tatsächlich benötigt, nicht mehr gestellt. Jetzt kommt es darauf an, was eine willkürlich zusammengesetzte – einkommensarme – Gruppe an
Ausgaben tätigt. Ob und inwieweit diese Ausgaben Bedarfe decken, wird nicht weiter thematisiert, sondern stillschweigend unterstellt.

und wieder zurück zum Warenkorb?

Rechnet man nun zusammen, was die einkommensschwachen Haushalte, die ja die Referenz für die Regelsätze darstellen, durchschnittlich ausgeben, kommt man auf eine Summe, die etwa 150 Euro höher ist als der vorgesehene Regelsatz für einen Ein-Personenhaushalt (439 Euro). Nun wird stillschweigend doch wieder das Warenkorb-Prinzip eingeführt. Es werden nämlich einzelne Positionen einfach gestrichen, weil sie angeblich nicht zum Existenzminimum gehörten. Nun wird deutlich, was nach Meinung der Experten zum Minimum eines menschen würdigen Daseins nötig ist. Ein Mensch im Grundsicherungsbezug braucht:

  • keinen Urlaub,
  • keine auswärtigen Übernachtungen,
  • keinen Garten und keine Pflanzen,
  • keine Haustiere und
  • keine Besuche von Gaststätten, Cafés oder Kantinen usw.

Das Bundesministerium kann sich anscheinend ein menschenwürdiges Dasein ohne soziale Bezüge vorstellen.

Methodenkritik

Ein weiterer Kritikpunkt ist die statistische Methode. Bei vielen Hochrechnungen der Ausgaben werden nur 25 oder weniger Haushalte herangezogen. Die statistische Standardabweichung liegt in solchen Fällen zwischen 20 und 100 Prozent, die Gefahr von falschen Zahlen also deutlich zu hoch.

seltsame Steigerungsrate

Die jetzige Einkommen- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bezieht sich auf das Jahr 2018. Die ermittelten Regelbedarfe beziehen sich daher ebenfalls auf dieses Jahr und müssen daher nach den Regeln des Gesetzes fortgeschrieben werden. In § 7 Abs.2 des Entwurfs ist für diese zwei Jahre insgesamt eine Steigerung von 0,93 vorgesehen. In den beiden Regelbedarfsstufen – Fortschreibungsverordnungen (RBSFV) aus 2019 und 2020 wurden hingegen Steigerungen von 2,02 bzw. 1,88 Prozent zugrundegelegt. Das wäre für die zwei Jahre insgesamt eine Steigerung von 3,9 %. Somit müsste schon alleine deshlab der angepeilte Regelsatz 13 Euro höher sein (also 452 Euro statt 439 Euro).

Stellungnahme prüft jedes Detail

In der Stellungnahme geht der Paritätische Wohlfahrtsverband ausführlich auf alle Ausgabenposten ein und beleuchtet sie kritisch. Beispielsweise die monatlich veranschlagten Ausgaben für die Anschaffung von Kühlschrank oder Waschmaschine in Höhe von 1,67 / 1,60 Euro. Um davon ein neues Gerät zu kaufen, muss man jahrelang ansparen und hat nach 5 Jahren trotzdem kaum genug, um ein veraltetes stromfressendes Exemplar zu kaufen. Die Alternative wäre ein Kredit vom Jobcenter; für die Rückzahlung desselben muss man dann aber jahrelang auf 10% des ohnehin knappen Regelsatzes verzichten.

Insgesamt wird der Entwurf der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Anpassung in keiner Weise gerecht. Gerade in den aktuellen Krisenzeiten der Corona-Pandemie bedeuten die viel zu geringen Grundsicherungsleistungen für hunderttausende Menschen bittere, existenzielle Not.

Quellen: Paritätischer Wohlfahrtsverband, BMAS, FOKUS-Sozialrecht

Abbildung: Fotolia_113739057_Subscription_XL.jpg

Regelbedarfsermittlungsgesetz für das Jahr 2021

Das BMAS hat das Regelbedarfsermittlungsgesetz für das Jahr 2021 als Entwurf vorgelegt, demnach sollen die Regelbedarfe wie folgt festgesetzt werden:

  • Regelbedarfsstufe 1 / Alleinstehende von 432 € auf 439 € / + 7 €
  • Regelbedarfsstufe 2 / Partner innerhalb BG von 389 € auf 395 € / + 6 €
  • Regelbedarfsstufe 3 / U 25 im Haushalt der Eltern von 345 € auf 361 € / + 6 €
  • Regelbedarfsstufe 4 / Jugendliche von 15 bis 17 J. von 328 € auf 367 € / + 39 €
  • Regelbedarfsstufe 5 / Kinder von 6-14 Jahren 308 € / keine Änderung
  • Regelbedarfsstufe 6 / Kinder von 0 bis unter 6 Jahren von 250 € auf 279 € / + 29 €

Von den Verbrauchsausgaben der Referenzgruppe der Einpersonenhaushalte nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 (Einpersonenhaushalten die unteren 15 Prozent der Haushalte) werden für die Ermittlung des Regelbedarfs folgende Verbrauchsausgaben der einzelnen Abteilungen aus der Sonderauswertung für Einpersonenhaushalte der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 für den Regelbedarf berücksichtigt (in Klammern Zahlen für 2020):

Abteilung 1 und 2 (Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren)152,33 €,
(150,44 €)
Abteilung 3 (Bekleidung und Schuhe)36,43 €,
(37,81 €)
Abteilung 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung)37,21 €,
(38,26 €)
Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände, laufende Haushaltsführung)26,74 €,
(26,60 €)
Abteilung 6 (Gesundheitspflege)16,75 €,
(16,19 €)
Abteilung 7 (Verkehr)39,37 €,
(35,96 €)
Abteilung 8 (Nachrichtenübermittlung)39,25 €,
(38,59 €)
Abteilung 9 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur)42,83 €,
(41,40 €)
Abteilung 10 (Bildungswesen)1,58 €,
(1,10 €)
Abteilung 11 (Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen)11,47 €,
(10,73 €)
Abteilung 12 (Andere Waren und Dienstleistungen)34,97 €,
(34,22 €)

Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Stichprobe stammt aus dem Jahr 2018. Berücksichtigt wird bei der genauen Höhe der Regelsätze dann noch die Lohn- und Preisentwicklung.

Für fast alle Personengruppen erhöhen sich die Regelsätze in der Grundsicherung. Bei den sechs- bis 13-jährigen Kindern wurde ein Bedarf von 4 Euro weniger ermittelt, deswegen bleibt hier der Regelsatz gleich.

Auffällig ist, dass in den einzelnen Abteilungen teilweise weniger Bedarf ausgerechnet wurde. Etwa bei der Abteilung 4, obwohl für 2021 mit einer Stromkostensteigerung in Höhe von 10 – 15 % zu rechnen ist.

Der Gesetzentwurf betont, dass nun auch Handy-Kosten berücksichtigt würden. Dies schlägt sich dann in der Abteilung 8 mit einer Erhöhung von mageren 66 Cent nieder.

Quellen:
Den Entwurf hat das BMAS aktuell (Stand: 15.7.2020 19 Uhr) nur an ausgewählte Verbände und Presseorgane übermittelt, deswegen kommen die Informationen vom Redaktionsnetzwerk Deutschland und von einem Twitterbeitrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Abbildung: Fotolia_113739057_Subscription_XL.jpg

16.07.2020: Hier ist der Referentenentwurf.

Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen?

Leistungskürzungen aufgrund von Sanktionen im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind bereits seit längerem in der Kritik. Hier eine Übersicht über die aktuelle Statistik der Bundesagentur für Arbeit, eine Zusammenfassung zum dazu anhängigen Verfahren beim Bundesverfassungsgericht sowie die Mitteilung des Paritätischen Gesamtverbandes ein eigenes Konzept zur Reform der Hartz IV-Regelungen vorlegen zu wollen.

Zahlen der Bundesagentur für Arbeit

Die Jobcenter haben im Jahr 2017 Sanktionen gegen 952.840 Leistungsberechtigte ausgesprochen. Wie sich aus der Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit ergibt, ist damit die Zahl der Leistungskürzungen im Vergleich zu 2016 um 13.700 gestiegen.

Gründe für die Sanktionen:

  • Mit 77 Prozent (733.800 Leistungsberechtigte) entfällt ein Großteil der Sanktionen auf Melde- bzw. Terminversäumnisse.
  • Gut 10 Prozent (98.860 Leistungsberechtigte) erhielten eine Leistungskürzung, weil sie sich weigerten, eine Arbeit oder eine Maßnahme aufzunehmen oder diese grundlos abgebrochen haben.
  • Bei fast 9 Prozent (83.380 Leistungsberechtigte ) wurden Pflichtverletzungen gegen die Eingliederungsvereinbarung sanktioniert.

„Drei von vier Sanktionen entstehen schlicht deshalb, weil vereinbarte Termine im Jobcenter gar nicht erst wahrgenommen werden. Dabei bieten die Jobcenter auch einen Erinnerungsservice per SMS an“ so Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der BA. Den Erinnerungsservice per SMS haben die Jobcenter eingerichtet, um die Zahl der Terminversäumnisse zu reduzieren. Wenn sich Kunden für den Service angemeldet haben, wird 24 Stunden vor einem vereinbarten Termin eine Erinnerung auf das Handy verschickt. Wer dann nicht erscheint, muss mit einer Absenkung der reguläre Regelleistung um 10 Prozent rechnen.

Von Sanktionen sind junge Menschen unter 25 Jahren besonders betroffen, da das SGB II bei diesem Personenkreis („U25“) bereits beim ersten Regelverstoß, der über ein Meldeversäumnis hinausgeht, eine hundertprozentige Sanktion der Regelleistung vorsieht. Kommt innerhalb eines Jahres ein weiterer Pflichtverstoß dazu, kann zudem die Miete gekürzt werden. Scheele dazu: „Das bereitet uns Sorge, weil die strikten Sonderregelungen bei Jugendlichen zu besonders einschneidenden Leistungskürzungen führen“. Er zeigt sich hier offen für Veränderungen.

Generell sieht Scheele die Kürzung der Miete, von der sowohl Jugendliche als Erwachsene bei wiederholten Verstößen betroffen sind, als problematisch an: „Drohende Wohnungslosigkeit hilft uns bei der Vermittlung und auch sonst nicht weiter.“

Anhängiges Verfahren beim Bundesverfassungsgericht

Ob es an der polititschen Diskussion, die zu Hartz IV aufgeflammt ist oder an Berichten und Auswertungen der Mitarbeiter der Jobcenter, die den Vorstandsvorsitzenden der BA zu diesen kritischen Aussagen bewegt hat, ist nicht bekannt.

Möglicherweise liegt dies auch an der ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionsregelungen im SGB II.

Unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/16 wird das Verfahren geführt, das wohl noch in 2018 vom Bundesverfassungsgericht entschieden wird. Vorgelegt wurde die Frage, ob die Sanktionsregelungen in § 31a in Verbindung mit §§ 31 und 31b des SGB II mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatlichkeit) und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und mit Art. 12 GG vereinbar sind.

Auf den Prüfstand stellte das Sozialgericht Gotha die Hartz IV-Sanktionen. Es hatte Anfang August 2016 die Verfassungsmässigkeit der Sanktionsregeln gegen Arbeitsuchende im Bereich der Grundsicherung nach dem SGB II in Zweifel gezogen.  und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit der Sanktionsregeln mit dem Grundgesetz vorgelegt und das erstinstanzliche Verfahren ausgesetzt.

Dieser Sachverhalt liegt dem ausgesetzten Verfahren zugrunde: Der Kläger stand beim Jobcenter Erfurt im Leistungsbezug. Nachdem er zunächst ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm die Leistung um 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung, der Kläger hatte gegen eine Eingliederungsvereinbarung verstoßen indem er einen Gutschein zur Erprobung bei einem Arbeitgeber nicht einlöste, verfügte das Jobcenter eine Minderung des Regelbedarfs um 60 Prozent. Dagegen beschritt der Kläger den Rechtsweg und reichte beim zuständigen Sozialgericht Gotha Anfechtungsklage ein. Zur Begründung hat er u.a. vorgetragen, dass eine Anwendung der Sanktionsregelungen des SGB II nicht in Betracht käme, da diese verfassungswidrig seien.

Die Richter des Sozialgerichts Gotha bezweifeln, dass § 31a i.V.m. §§ 31 und 31b SGB II mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, weil sich das für die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums maßgebliche Arbeitslosengeld II auf Grund von Pflichtverletzungen um 30 bzw. 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs mindert bzw. bei weiteren Pflichtverletzungen vollständig entfällt. Das Bundesverfassungsgericht habe in der Vergangenheit immer wieder betont, dass die Garantie der Menschenwürde eine Sicherstellung des Existenzminimums im Einzelfall verlangt. Es sei nunmehr aufgefordert, darüber entscheiden, welchen Spielraum der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Grundrechte, insbesondere des Schutzes der Menschenwürde und des Sozialstaatsprinzips habe.

Paritätischer kündigt eigenes Konzept zur Reform von Hartz IV an

In einer Pressemitteilung vom 11. April 2018 fordert der Partiätische Gesamtverband eine vollständige Abschaffung der Sanktionen. Notwendig sei eine komplette Neuausrichtung der Grundsicherung. Der Verband kündigt an, noch im April 2018 ein eigenes Konzept zur Reform von Hartz IV vorzulegen.

Der Verband begrüßt, dass auch der Vorstandsvorsitzende der BA Veränderungsbedarf einräume. Aus Sicht des Paritätischen sind jedoch kleine Korrekturen nicht ausreichend.

„Die Sanktionen gehören vollständig abgeschafft. Wir müssen weg von dieser misanthropischen Grundhaltung, die Hartz IV prägt, hin zu einem echten Hilfesystem. Hilfe statt Strafe muss die Richtschnur sein“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.

Quellen:

 

Informationsplattform zum bedingungslosen oder solidarischen Grundeinkommen

Die neue Informationsplattform „Bedingungsloses und solidarisches Grundeinkommen – Konzepte in der Diskussion“ stellt wissenschaftliche Literatur zum Thema zusammen und wirft einen Blick auf die aktuelle Diskussion. Informationsplattform zum bedingungslosen oder solidarischen Grundeinkommen weiterlesen