Mit dem Bundesteilhabegesetz sollte schon vor einigen Jahren ein menschenrechtsorientierter Behinderungsbegriff im SGB IX verankert werden. Strittig ist seitdem, welche Formulierung den Kreis der bisher leistungsberechtigen Personen weder erweitert noch Personen ausschließt, die auf der Grundlage der bisherigen Formulierung Leistungen erhält. Nun liegt das Ergebnis einer Untersuchung (Vorabevaluation) vor, die den vorliegenden Verordnungentwurf auf diese Frage hin analysiert hat.
Arbeitsgruppe seit 2018
Die mit der Implementierung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) verbundene Frage nach dem künftigen leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe konnte bisher nicht abschließend geregelt werden. Das dazu zunächst mit Art. 25a BTHG verfolgte Konzept einer quantitativen Betrachtung der Teilhabeeinschränkungen in den Lebensbereichen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) erwies sich nach einer
wissenschaftlichen Evaluation als nicht tragfähig. Daraufhin initiierte das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Herbst 2018 die partizipative Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis in der Eingliederungshilfe“ (AG LPE).
Kriterien für die Neudefinition
Die Hauptaufgabe dieser Arbeitsgruppe bestand darin, Kriterien für die Neudefinition des zukünftigen leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe gemäß SGB IX zu erarbeiten. In diesem Rahmen entwickelte die Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Überarbeitung von § 99 SGB IX und den Entwurf
einer neuen Verordnung, die den Zugang zu Leistungen konkretisiert.
VOLE
Der Verordnungsentwurf trägt den Titel „Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe“ (VOLE). Die Struktur der VOLE orientiert sich am Aufbau der bestehenden Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) und verwendet Formulierungen, die den Begrifflichkeiten der UN-BRK und der ICF entsprechen. Trotz intensiver Bemühungen konnte innerhalb der Arbeitsgruppe bis Ende September 2019 keine vollständige Einigung über den genauen Wortlaut der VOLE erzielt werden. Während § 99 SGB IX zum 1. Juli 2021 durch den Gesetzgeber entsprechend des Vorschlags der AG LPE angepasst wurde, soll die VOLE erst nach einer Vorabevaluation auf den Weg gebracht werden.
Untersuchung der Auswirkungen
Ziel der Vorabevaluation ist die Untersuchung der Auswirkungen der VOLE auf den
leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe. Insbesondere soll die VOLE gegenüber der bislang maßgeblichen EinglHV vor dem Hintergrund des Ziels bewertet werden, den Personenkreis dem Grunde nach unverändert zu lassen. Auf Grundlage der Ergebnisse des Forschungsvorhabens soll der Verordnungsgeber entscheiden können, in welcher Form er die vorgeschlagene VOLE umsetzen möchte.
Nach dem Ergebnis der juristischen Analyse haben sich die gesetzlichen Bestimmungen über den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe seit 01.01.2005 im Grundsatz nicht verändert. Mit dem BTHG wurde in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zum 01.01.2018 eine neue Definition von Behinderung eingeführt, die sich an dem Verständnis der UN-BRK und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO orientiert.
Entscheidend für das neue Begriffsverständnis ist, dass Behinderung erst in Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen Problem einer Person und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht.
Anpassung an die UN-Behindertenrechtskonvention
Bei der neuen Definition von Behinderung handelt es sich um eine sprachliche Anpassung des § 2 SGB IX an die UN-BRK. Die Bestimmungen über die Leistungsvoraussetzungen in § 99 SGB IX haben sich mithin seit fast 20 Jahren inhaltlich nicht geändert. Geändert hat sich durch das BTHG die nunmehr an der UN-BRK und der ICF orientierte Legaldefinition der Personen, für die diese
Bestimmungen über die Leistungsvoraussetzungen Anwendung finden sollen. Die untergesetzlichen Rechtsverordnungen (EinglHV und VOLE) müssen diesem Recht folgen und sind bei ihrer Anwendung auch im Lichte dieser Bestimmungen auszulegen.
Personenkreis soll gleich bleiben
Die Vorabevaluation des Entwurfs der „Verordnung über den Leistungszugang in der
Eingliederungshilfe“ (VOLE) hatte das Ziel, vor Einführung einer neuen Verordnung zu erwartende Veränderungen hinsichtlich des leistungsberechtigten Personenkreises zu untersuchen. Insbesondere soll die VOLE gegenüber der bislang maßgeblichen Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) vor dem Hintergrund des Ziels bewertet werden, den Personenkreis dem Grunde nach unverändert zu lassen.
Keine Änderung bei körperlicher oder seelischer Behinderung
Die interdisziplinär angelegte Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) führte hierfür juristische, medizinische und ozialwissenschaftliche Analysen zusammen. Im Ergebnis wird konstatiert, dass bei Einführung der vorliegenden Fassung der §§ 2 und 4 VOLE weder eine Ausweitung noch eine Einschränkung des beschriebenen Personenkreises zu erwarten ist.
Ausgrenzung bei geistig Behinderten
Jedoch ist festzuhalten, dass die drei Formulierungsalternativen zu § 3 VOLE in
unterschiedlichem Umfang zu einer Ausgrenzung eines Teils des bisher von § 2 EinglHV erfassten Personenkreises führen. Damit die mit der Einführung der neuen medizinischen Oberbegriffe angestrebte Rechtsklarheit und einheitliche Rechtsanwendung erreicht werden kann, bedarf es laut Untersuchung einer Überarbeitung hinsichtlich der Verwendung medizinischer Begriffe.
Überarbeitung
Der Entwurf soll nun auf Grundlage der Forschungserbegnisse überarbeitet und erneut in der genannten Arbeitsgruppe besprochen werden.
Quellen: BMAS, Paritätischer Gesamtverband, FOKUS-Sozialrecht
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