Wokeness und Sonderurlaub

Wenn man zwei sehr unterschiedliche Dinge miteinander verknüpft, kann das für heftige Aufregung sorgen. Zum einen gab es einen Gesetzentwurf des Familienministeriums („Familienstartzeitgesetz„) und zum anderen die vermeintliche Abschaffung des Begriffs „Mutter“ durch die Tagesschau.

10 Arbeitstage nach der Geburt

Aber der Reihe nach: Das BMFSFJ setzt mit dem Familienstartzeitgesetz eine EU-Richtlinie und ein Vorhaben aus dem Koalititonsvertrag um. Kernpunkt ist ein zweiwöchiger Sonderurlaub nach einer Geburt, parallel zum Mutterschaftsurlaub, der in der Regel 12 Wochen nach der Geburt dauert.

Zehn Arbeitstage sollen Partnerinnen oder Partner der Mutter künftig nach der Geburt freigestellt werden. Alleinerziehende können eine Person aus ihrem Bekanntenkreis benennen, der der Anspruch auf den Sonderurlaub dann zugesprochen wird.

Umlageverfahren

Die Kosten hierfür sollen laut dem Gesetzentwurf nicht die Arbeitgeber*innen tragen, sondern werden durch ein Umlageverfahren finanziert. Es ist das gleiche Verfahren, das bislang für die Mutterschaftsleistungen gilt. Dabei zahlen Arbeitgeber*innen eine Umlage und bekommen dann die zu zahlenden Mutterschaftsbezüge von der Krankenkasse erstattet.

Die bezahlte Freistellung, der zehntägige Sonderurlaub läßt insbesondere ärmere Familien profitieren. Die Begründung aus dem Familienministerium lautet: Mütter und Väter, die nicht über große finanzielle Mittel verfügen, arbeiteten oft in körperlich anstrengenden Berufen, im Schichtdienst oder sie hätten lange Wege zur Arbeit zurückzulegen. Durch den Sonderurlaub würde folglich grade ihnen der Start in die erweiterte Familienzeit erleichtert werden.

Länger Elterngeld bei Frühgeburten

Zeitgleich mit der Partnerfreistellung nach der Geburt soll die Änderung des Mutterschutzgesetzes auch Eltern von Frühchen stärker berücksichtigen. Eltern, deren Kinder vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden, sollen künftig einen weiteren Monat Basiselterngeld erhalten. Damit sollen Familien besser unterstützt werden, die einen höheren Bedarf für Pflege und Erziehung benötigen.

Nicht alle Mütter sind Gebärende

Bei der Berichterstattung über den Gesetzentwurf verwendete die Tagesschau zunächst statt den Begriff „Mutter“ die Begriffe „entbindende Person“ und „gebärende Personen“. Es gibt nun mal Familien mit zwei Müttern statt Vater und Mutter. Mit der Formulierung soll klargestellt werden, dass natürlich der neue Sonderurlaub für die Partnerin der gebärenden Mutter gilt.

Was ist woke?

Das verschaffte dem eigentlich unspektakulären Gesetzentwurf eine enorme Resonanz. Man darf nun nicht mehr „Mutter“ sagen! Der Untergang des Abendlands droht! Und alles nur wegen der „woken“ Verbotspolitik!

Ich bin sicher, dass die meisten Menschen, die andere als „woke“ beschimpfen, gar nicht wissen, was das bedeutet. Der Begriff „woke“ entstand in den 30er Jahren des letzten Jahhunderts in den USA und beschreibt ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus.

Der Begriff wird von Konservativen und Rechten bis hin zu Rechtsextremen abwertend verwendet und politisch instrumentalisiert. Bemühungen gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie oder Transphobie werden als „abartig, verrückt, gefährlich und als unmittelbare Bedrohung“ für die althergebrachte Lebensweise dargestellt.

Aufschrei bei den üblichen Verdächtigen

Kein Wunder also, dass der Versuch der Tagesschau, eine möglichst genaue und alle einschließende Formulierung zu wählen einen Aufschrei bei den üblichen konservativen Politikern im Einklang mit der AFD und den Propagandisten der Springer-Presse auslöste.

Die Tagesschau hat den Begriff später korrigiert, leider ohne Erklärung, nur dass es „Missverständnisse“ gegeben habe, und wieder „Mutter“ verwendet.

Das Familienstartzeitgesetz soll übrigens ab 1. Januar 2024 gelten.

Quellen: Tagesschau, buerger-geld.org

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Mutterschutz

Mutterschutz ist in vielen Teilen der Welt keine Selbstverständlichkeit. Die USA hat beispielsweise als einziges Industrieland keinen Mutterschutz. In den meisten Ländern Afrikas ist es üblich, dass Frauen direkt nach der Geburt die Arbeit wieder aufnehmen. Nur selten gibt es gesetzliche Regelungen, die einen Mutterschutz vorsehen. In den meisten europäischen Ländern ist der Mutterschutz geregelt, vor allem osteuropäische Länder gewähren oft eine lange Zeit Mutterschaftsurlaub.

Kein angemessener Rechtsschutz

Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erhalten weltweit rund 830 Millionen arbeitende Frauen keinen angemessenen Rechtsschutz – 80 Prozent von ihnen leben in Afrika und Asien. Laut der ILO hat das in vielen Fällen zur Folge, dass Arbeitgeber zögern, schwanger Frauen anzustellen, zu befördern oder ihren Job zu garantieren. Oftmals kann das auch bedeuten, dass Frauen im gebärfähigen Alter gar nicht erst angestellt werden.

Übereinkommen 183

Die Internationale Arbeitsorganisation ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen und damit beauftragt, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern. Im Jahr 2000 wurde von der ILO das Übereinkommen Nr. 183 verabschiedet und bislang von 38 Staaten ratifiziert.

Es zielt darauf ab, durch umfassende Regelungen über den Mutterschutz die Gleichstellung aller erwerbstätigen Frauen sowie den Gesundheitsschutz und die Sicherheit von Mutter und Kind weltweit zu fördern, während gleichzeitig die unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Mitgliedstaaten berücksichtigt wird.

Inhaltliche Schwerpunkte

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Übereinkommens sind:

  • Der Gesundheitsschutz und die ärztliche Betreuung von Mutter und Kind,
  • der Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen mit einer Geldleistung von mindestens zwei Dritteln des bisherigen Arbeitsentgelts der Frau,
  • der Kündigungsschutz,
  • das Rückkehrrecht zur selben oder gleichwertigen Arbeit sowie
  • das Verbot der Diskriminierung der Beschäftigten wegen einer Schwangerschaft oder Stillzeit.

Deutschland ratifiziert

Deutschland hat am 30.9.2021 das ILO-Übereinkommen Nr. 183 über den Mutterschutz ratifiziert. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention 183 über den Mutterschutz vollzieht die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit, die in Deutschland im Mutterschutzgesetz bereits geregelt ist. 14 Wochen Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub ist im europäischen Vergleich allerdings der Mindestschutz für werdende und stillende Mütter.

Quellen: BMAS, ILO, Deutschlandfunk, Tagesschau

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