Auskunftspflicht beim Elternunterhalt

Das Bundessozialgericht hat sich am 21.11.2024 mit der Frage beschäftigt, wie weit die Auskunftspflicht von Angehörigen gegenüber dem Sozialamt greift.

Angehörigen-Entlastungsgesetz

Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz hat der Gesetzgeber zum 1. Januar 2020 unter anderem unterhaltsverpflichtete Kinder entlastet. Ein Unterhaltsrückgriff durch den Sozialhilfeträger auf ein erwachsenes Kind, dessen Eltern vom Sozialamt Leistungen erhalten, ist mit dem neu eingeführten § 94 Absatz 1a SGB XII gegenüber dem früheren Recht beschränkt worden: Ein möglicher Unterhaltsanspruch der Eltern gegen ihre erwachsenen Kinder geht erst dann auf den Sozialhilfeträger über, wenn das Einkommen des Kindes einen Jahresbetrag von 100 000 Euro übersteigt. Dabei wird gesetzlich vermutet, dass diese Einkommensgrenze nicht überschritten wird. Erst wenn die Vermutung wiederlegt ist, kann Auskunft vom unterhaltsverpflichteten Kind verlangt und anschließend ein Unterhaltsrückgriff vom Sozialhilfeträger geltend gemacht werden. Dabei ist gegebenenfalls auch vorhandenes Vermögen zu berücksichtigen.

Sozialgericht für den Kläger, Landessozialgericht dagegen

Der Vaters des Klägers erhielt Leistungen der Hilfe zur stationären Pflege von dem beklagten Sozialhilfeträger. Zur Prüfung einer etwaigen Unterhaltspflicht forderte der Beklagte den Kläger im Jahr 2020 gestützt auf Internetrecherchen über dessen berufliche Tätigkeit im Management einer Aktiengesellschaft auf, Auskünfte über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu erteilen. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht hat dieses Urteil und den Auskunftsverwaltungsakt aufgehoben. Das Auskunftsverlangen richte sich nach dem zum 1. Januar 2020 in Kraft getretenen Angehörigen-Entlastungsgesetz, wonach vermutet werde, dass das Einkommen der unterhaltspflichtigen Angehörigen die seither maßgebliche Jahreseinkommensgrenze in Höhe von 100 000 Euro nicht erreiche. Zwar lägen hinreichende Anhaltspunkte für das Überschreiten dieser Grenze vor und die Vermutung sei widerlegt. Der Beklagte habe zunächst aber nur Auskünfte zum Einkommen erfragen dürfen. Vermögensauskünfte könne er erst verlangen, wenn die Einkommensgrenze tatsächlich überschritten werde. Das umfassende Auskunftsverlangen sei deshalb rechtswidrig. Eine geltungserhaltende Reduktion scheide im vorliegenden Fall aus.

Hiergegen richtet sich die Revision des Beklagten. Da § 94 Absatz 1a Satz 5 SGB XII auf 117 SGB XII verweise, der nicht zwischen Einkommens- und Vermögensauskünften unterscheide, finde das gestufte Verfahren im Gesetz keine Stütze.

Zunächst dürfen nur Auskünfte zum Einkommen erfragt werden

Der Senat hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Das Landessozialgericht hat zu Recht angenommen, dass der angegriffene Auskunftsverwaltungsakt die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung zur Einholung von Auskünften gegenüber Angehörigen überschreitet. Ein möglicher Unterhaltsanspruch der Eltern gegen ihr erwachsenes Kind geht nach § 94 Absatz 1a SGB XII erst dann auf den Sozialhilfeträger über, wenn die Summe seiner Einkünfte im Sinne des Einkommenssteuerrechts einen Jahresbetrag von 100 000 Euro übersteigt. Um diese Voraussetzungen zu klären, ist das erwachsene Kind einer leistungsberechtigten Person zur Auskunftserteilung verpflichtet, wenn “hinreichende“ Anhaltspunkte vorliegen, dass es die maßgebliche Jahreseinkommensgrenze in Höhe von 100 000 Euro überschreitet. Dies ist hier der Fall; denn nach vorläufiger Prüfung der Sachlage aufgrund erkennbarer Indizien aus öffentlich zugänglichen Quellen bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die maßgebliche Einkommensgrenze überschritten wird. § 94 Absatz 1a Satz 5 SGB XII, der auf die Auskunftspflichten nach § 117 SGB XII verweist, ist nach seinem Sinn und Zweck aber dahin auszulegen, dass in einem ersten Schritt vom Angehörigen nur Auskünfte über das jährliche Gesamteinkommen erteilt werden müssen. Der gezielt auch auf Auskünfte zum Vermögen gerichtete Verwaltungsakt war deshalb rechtswidrig. Umfassende Auskünfte auch zum Vermögen müsste der Kläger in einem zweiten Schritt erst erteilen, wenn die 100 000-Euro-Grenze überschritten wäre. Vorliegend scheidet auch eine geltungserhaltende Reduktion des Auskunftsverwaltungsakts aus.

Quellen: Bundessozialgericht, FOKUS-Sozialrecht

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BSG-Urteil zur Angemessenheitsfiktion

Das BSG hat mit Urteil vom 14. Dez. 2023 – B4 AS 4/23 R entschieden, dass die Angemessenheitsfiktion der Unterkunfts- und Heizkosten des § 67 Abs. 1 und Abs. 3 SGB II im gesamten Zeitraum aller Bewilligungsabschnitte, die zwischen 03/2020 bis 12/2022 begonnen haben, anzuwenden ist.

Bedarfe für Unterkunft und Heizung

Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden gemäß § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen. Dies gilt allerdings nicht bei einem Umzug. Hier muss vorab eine Zusicherung eingeholt werden vom zuständigen Jobcenter. Bei Fehlen einer Zusicherung werden nur die angemessenen Kosten übernommen.

Sonderregelung aufgrund Corona

Welche Kosten angemessen sind, richtet sich im vorliegenden Fall jedoch nach der aufgrund der Corona-Pandemie geschaffenen Sonderregelung des § 67 Absatz 1 und Absatz 3 SGB II. Diese Regelung ist hier in zeitlicher Hinsicht anwendbar, weil der streitbefangene Bewilligungszeitraum am 1. Februar 2021 und damit innerhalb des von § 67 Absatz 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung ausdrücklich umschriebenen Zeitraums begonnen hat. Auch steht dem nicht entgegen, dass die Kläger bereits vor dem Februar 2021 Leistungen nach dem SGB II bezogen haben. § 67 Absatz 1 und Absatz 3 SGB II erfasst nicht nur erstmalige Bewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungszeiträume. Die sich aus § 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II ergebende Rechtsfolge der unwiderlegbaren Vermutung, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung angemessen sind, tritt zudem in jedem
Bewilligungszeitraum erneut ein, der innerhalb des in § 67 Absatz 1 SGB II genannten Zeitraums beginnt.

Dies gilt auch, wenn der Leistungsberechtigte während des Leistungsbezugs umgezogen ist. Der Normwortlaut des § 67 Absatz 3 SGB II beschränkt seine
Fiktionswirkung zwar auf § 22 Absatz 1 SGB II. Er erstreckt sich nicht auf § 22 Absatz 4 SGB II. Dies führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Die durch die fehlende Zusicherung bewirkte Begrenzung auf die angemessenen Kosten im Sinne des § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II aktiviert im hier streitbefangenen Zeitraum gerade die Fiktion des § 67 Absatz 3 Satz 1 SGB II.

Kein Hinweis auf Rechtsmissbrauch

Allerdings greift die Fiktionswirkung dann nicht ein, wenn ein Leistungsbezieher
rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Dies kann im vorliegenden Kontext etwa der Fall sein, wenn eine offensichtlich unangemessen teure Wohnung allein deswegen angemietet wurde, um die eigenen Wohnverhältnisse unter Ausnutzung der Corona-Sonderregelung des § 67 Absatz 3 SGB II zu Lasten der Allgemeinheit zu verbessern. Dafür, dass es sich im vorliegenden Fall so verhält, bieten die Feststellungen des Landessozialgerichts indes keine Anhaltspunkte.

Stellungnahme von Tacheles

Harald Thome vom Wuppertaler Verein Tacheles e.V. meint zu dem Urteil, es werfe ein Schlaglicht auf eine heftige Realität. Geltendes Recht sei in einer Vielzahl von Fällen, wenn nicht sogar systematisch, von Jobcentern und Sozialämtern nicht umgesetzt worden. Verschiedene LSG’s, sei es das LSG Niedersachsen-Bremen oder das LSG NRW hätten im Wahn reaktionärer, behördenkonformer Rechtsauslegung die Nichtanwendung der Angemessenheitsfiktion für Umzugsfälle festgestellt. Sie hätten damit in der maßgeblichen Zeit den Boden dafür geschaffen, dass die Jobcenter und Sozialämter das Recht brechen konnten, weil sie diese LSG Entscheidungen im Rücken hatten.

Das BSG habe nun endlich in dem Urteil das Recht klargestellt. Es mache klar, dass die Angemessenheitsfiktion im SGB II und SGB XII gegolten hat und Umzüge innerhalb der „Sozialschutzpaketzeit“ grundsätzlich keiner Zustimmung bedürfte um die tatsächlichen KdU und Heizung zu erhalten, außer sie waren „rechtsmissbräuchlich“.

Quellen: Bundessozialgericht, Tacheles e.V.

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Keine Befristung beim Persönlichen Budget

Das entsprechende Urteil dazu hat das Bundessozialgericht schon Ende Januar 2021 gesprochen. Trotzdem lohnt sich auch jetzt noch ein Blick auf das Thema „Persönliches Budget“.

BSG-Urteil

Das Bundessozialgericht hatte in seiner Entscheidung (AZ: B 8 SO 9/19 R) festgestellt, dass ein  im Rahmen der Eingliederungshilfe bezahltes persönliches Budget für behinderte Menschen nicht befristet werden darf. Zwar kann alle zwei Jahre der Bedarf des behinderten oder kranken Menschen neu überprüft werden, eine generelle Befristung dieser Unterstützungsform ist aber nicht gesetzlich vorgesehen. Als Folge der Entscheidung müssen Betroffene wegen einer Befristung nicht immer wieder neu einen Antrag für die Eingliederungshilfeleistung stellen.

Dem Urteil voraus ging eine Klage eines psychisch kranken Mannes gegen seinen Sozialhilfeträger. Dieser hatte sein persönliches Budget befristet. So kürzte der Sozialhilfeträger das Budget von ursprünglich 600 Euro monatlich auf 196 Euro und später auf 388 Euro monatlich. Der Kläger hätte zudem nach Ablauf der Bewilligung einen neuen Antrag stellen müssen.

Keine Breitenwirkung

Aus dem Dritten Teilhabebericht der Bundesregierung vom geht hervor, dass das Persönliche Budget insgesamt von den Betroffenen nicht gut angenommen wird. Danach nahmen am Jahresende 2018 insgesamt 10.410 Personen ein Persönliches Budget in Anspruch, die meisten davon (10.090 beziehungsweise 96,9 %) im Rahmen der Eingliederungshilfe. Die Anzahl der Personen, die Leistungen der Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege in Form eines Persönlichen Budgets in Anspruch nahmen, stieg im Vergleich zum Jahr 2014 zwar um 9,9 Prozent, allerdings ergab sich bei jährlichen Schwankungen kein eindeutiger Aufwärtstrend. Am höchsten war die Zahl derjenigen, die ein Persönliches Budget in Anspruch nahmen, im Betrachtungszeitraum im Jahr 2017 (11.543 Personen). Insgesamt war die Zahl der Leistungsbeziehenden gering, eine Breitenwirkung konnte das Persönliche Budget bislang nicht erzielen.

Selbstbestimmung durch Persönliches Budget

Das Persönliche Budget nach § 29 SGB IX ermöglicht Menschen mit Behinderung statt der sonst üblichen Bereitstellung von Dienst- oder Sachleistungen in der Regel über Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, eine Geldleistung als Budget zu erhalten. Dieses zur Verfügung gestellte Budget soll behinderten und hilfebedürftigen Menschen ermöglichen, selbstbestimmt und in eigener Verantwortung Dienst- und Sachleistungen „einzukaufen“. Es ist ein bedeutsamer Unterschied, ob man selbst entscheidet oder andere professionelle Dienstleister regulieren lässt, wie notwendige Unterstützungsleistungen erbracht werden sollen und wer diese Hilfen erbringt. Voraussetzung für diese größere Autonomie und Teilhabe: Im Rahmen eines Bedarfsfeststellungsverfahrens und entsprechenden Zielvereinbarungen mit dem behinderten Menschen, ist – nach Maßgabe einiger im Sozialgesetzbuch genannten inhaltlichen, strukturellen und organisatorischen Vorgaben – dann ein für den individuellen Hilfebedarf erforderliches Persönliches Budget zu bewilligen.

Für viele zu kompliziert

Fast ausschließlich beantragen Menschen mit Körperbehinderung oder mit psychischen Behindeungen das Persönliche Budget. Die Antragstellung ist kompliziert, die Organisation und Handhabung des Budgets im Alltag stellt hohe Anforderungen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die genauso Anspruch auf ein selbstbestimmteres Leben mit Hilfe des Persönlichen Budgets haben, schrecken deswegen oft davor zurück.

Quellen: BSG, Bundesregierung

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Schulbücher

Zu Anfang 2021 wurde der neue Absatz 6a in den § 21 SGB II eingefügt, im SGB XII entsprechend der neue Absatz 9 im § 30. Danach haben Schüler und Schülerinnen, die aufgrund der jeweiligen schulrechtlichen Bestimmungen oder schulischen Vorgaben Aufwendungen zur Anschaffung oder Ausleihe von Schulbüchern oder gleichstehenden Arbeitsheften hatten, einen Anspruch auf Übernahme der kompletten Schulbuchkosten, egal ob Ausleihgebühren, Eigenanteile, die nach landerechtlichen Bestimmungen anfallen, oder Gesamtkosten.

Vorgabe des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht hat am 8. Mai 2019 entschieden (Az. u. a. B 14 AS 6/18 R), dass die Kosten für Schulbücher nach § 21 Absatz 6 als Härtefall-Mehrbedarf zu übernehmen sind, wenn Schülerinnen und Schüler mangels Lernmittelfreiheit ihre Schulbücher selbst kaufen müssen. Die Kosten für Schulbücher seien zwar dem Grunde nach vom Regelbedarf erfasst, nicht aber in der richtigen Höhe, denn dem Regelbedarf liege die bundesweite Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zugrunde. In der Mehrzahl der Bundesländer gelte jedoch Lernmittelfreiheit. Der in den Regelbedarf eingeflossene Betrag für Schulbücher sei daher strukturell zu niedrig für diejenigen, die ihre Schulbücher selbst kaufen müssen. Insoweit sei das Ergebnis der EVS nicht übertragbar.

Eigenständige Regelung

Diese Rechtsprechung wird bereits umgesetzt. Allerdings passt § 21 Absatz 6 SGB II als Auffangvorschrift für individuelle Härtefälle systematisch nicht bei der hier vorliegenden strukturellen Untererfassung eines Bedarfs im Rahmen der Ermittlung des Regelbedarfs. Daher wird mit dem neuen Absatz 6a eine eigenständige Regelung für Aufwendungen zu Kauf oder entgeltlicher Ausleihe von Schulbüchern geschaffen. Umfasst sind auch Arbeitshefte, soweit sie den Schulbüchern gleichstehen. Das ist der Fall, wenn sie über eine ISBN-Nummer verfügen.

Nur bei fehlender Lernmittelfreiheit

Voraussetzung für die Anerkennung als Mehrbedarf ist, dass für die betreffende Schülerin bzw. den Schüler im jeweiligen Bundesland oder in der jeweiligen Schule – ganz oder teilweise – keine Lernmittelfreiheit und damit keine Möglichkeit einer unentgeltlichen Anschaffung oder Ausleihe der Schulbücher bzw. der Arbeitshefte besteht. Zudem muss die Benutzung des Buches bzw. Arbeitshefts durch die Schule oder den jeweiligen Fachlehrer vorgegeben sein.

Wie bekommt man die Kosten erstattet?

Um diese Kosten erstattet zu bekommen, bedarf es

  • eines Nachweises der Schule, welche Bücher anzuschaffen sind, sowie
  • eine Quittung über die entstandenen Kosten.

Handelt es sich um erhebliche Kosten, z. B. wegen fehlender Lernmittelfreiheit in einem Bundesland, müssen die Kosten nach vorheriger Bezifferung monatlich im Voraus erbracht werden (§ 42 Abs. 1 SGB II). Seit 1.8.2016 gibt es diese Vorschussregelung. Maximal 100 Euro des Leistungsanspruchs des Folgemonats können als Vorschuss gewährt werden.

Wann muss der Antrag gestellt werden?

Im SGB XII (nach dem 3. Kapitel) und bei den Analogleistungen nach AsylbLG muss beachtet werden, dass die Anträge auf Übernahme zwingend im Monat des Kaufes gestellt werden müssen! Im SGB II können die Anträge auch deutlich später gestellt werden.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, BSG, Harald Thome, SOLEX

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Wohngruppenzuschlag

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat am 10. September 2020 in drei Revisionsverfahren über den Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a Sozialgesetzbuch Elftes Buch – SGB XI – für pflegebedürftige Bewohner von Wohngruppen entschieden (Aktenzeichen B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R, B 3 P 1/20 R).

Die sämtlich den Zuschlag ablehnenden Urteile der Landessozialgerichte sind aufgehoben worden. Der 3. Senat misst dem gesetzlichen Ziel der Leistung, ambulante Wohnformen pflegebedürftiger Menschen unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts zu fördern, hohe Bedeutung bei und hält einen strengen Maßstab für die Anforderungen an den Wohngruppenzuschlag nicht für gerechtfertigt.

Wohngruppenzuschlag in ambulant betreuten Wohngruppen

Die Bedeutung ambulant betreuter Wohngruppen für die pflegerische Versorgung wächst. Diese Wohngruppen tragen dem Wunsch nach privater und häuslicher Pflege und Betreuung Rechnung. Vor allem ermöglichen sie es Menschen, die ihren Lebensalltag nicht mehr allein bewältigen können oder möchten, eine gemeinschaftliche Pflege in der Nähe ihres angestammten Wohnumfeldes zu erhalten. Das verhindert Brüche im sozialen Gefüge der Betroffenen. Die überschaubare Größe der Wohngruppen erleichtert es, die Ressourcen der Pflegebedürftigen zu nutzen und zu erhalten sowie Angehörige und das weitere soziale Umfeld der Pflegebedürftigen in den Alltag der Wohngruppe einzubeziehen.

Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen (sog. Pflege-WG), die Pflegesachleistungen oder Pflegegeld beziehen, erhalten seit 1.1.2017 einen Wohngruppenzuschlag in Höhe von 214 EUR je Monat.

Die Voraussetzungen für den Wohngruppenzuschlag und die Ausgestaltung von ambulanten Wohngruppen wurde mit dem Pflegestärkungsgesetzen I und II weiterentwickelt:

  • Der Pflegebedürftige hat Anspruch auf Wohngruppenzuschlag, wenn
  • Er mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zusammenlebt.
  • Davon sind mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig.
  • Die Bewohner müssen Pflegesachleistungen, Pflegegeld, Kombinationsleistungen, Angebote zur Unterstützung im Alltag oder den Entlastungsbetrag beziehen.
  • Zweck der Wohngemeinschaft ist die gemeinschaftlich organisierte pflegerische Versorgung.
  • Eine Person muss durch die Mitglieder der Wohngruppe gemeinschaftlich beauftragt werden, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder hauswirtschaftliche Unterstützung zu leisten.
  • Es muss sicher gestellt sein, dass die ambulante Leistungserbringung nicht tatsächlich weitgehend den Umfang einer stationären oder teilstationären Versorgung erreicht, und somit eine Situation vermieden wird, in der ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter für die Mitglieder der Wohngruppe eine Vollversorgung anbietet. Das zentrale Merkmal einer ambulanten Versorgung ist, dass regelhaft Beiträge der Bewohnerinnen und Bewohner selbst, ihres persönlichen sozialen Umfelds oder von bürgerschaftlich Tätigen zur Versorgung notwendig bleiben.

§ 38a SGB XI gilt auch für Personen mit Pflegegrad 1.

Der Medizinische Dienst soll im Einzelfall prüfen, ob in Wohngruppen die Inanspruchnahme der Tages‐ und Nachtpflege erforderlich ist. Nur dann, wenn durch eine Prüfung nachgewiesen ist, dass die Pflege in einer ambulant betreuten Wohngruppe ohne teilstationäre Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann, kann die Leistung in Anspruch genommen werden. 

Hinweise des BSG

Das Bundessozialgericht weist in seinem Urteil darauf hin, dass trotz der Zielrichtung des Gesetzes der Zuschlag allerdings zu versagen wäre, wenn es sich nicht im Rechtssinne um eine ambulant betreute Wohngruppe, sondern faktisch um eine (verkappte) vollstationäre Versorgungsform handelte, oder wenn die in der Wohngruppe erbrachten Leistungen nicht über diejenigen der häuslichen Pflege hinausgingen. Für gesetzlich begünstigte Wohn- und Versorgungsformen sei maßgebend, dass die Betroffenen im Sinne einer „gemeinschaftlichen Wohnung“ die Möglichkeit hätten, Gemeinschaftseinrichtungen zu nutzen, und dass sie die Übernahme einzelner Aufgaben außerhalb der reinen Pflege durch Dritte selbstbestimmt organisieren könnten.

Die „gemeinschaftliche Beauftragung“ einer Person zur Verrichtung der im Gesetz genannten, die Wohngruppe unterstützenden Tätigkeiten müsse sich an der Förderung der Vielfalt individueller Versorgungsformen und der Praktikabilität messen lassen. Deshalb unterliege eine gemeinschaftliche Beauftragung keinen strengen Formvorgaben und kann auch durch nachträgliche Genehmigung erfolgen. Dafür reiche es aus, wenn innerhalb der Maximalgröße der Wohngemeinschaft von zwölf Personen einschließlich der die Leistung begehrenden pflegebedürftigen Person mindestens zwei weitere pflegebedürftige Mitglieder an der gemeinschaftlichen Beauftragung mitwirken. Bei der beauftragten Person könne es sich auch um mehrere Personen und ebenfalls um eine juristische Person handeln, die dann wiederum durch namentlich benannte natürliche Personen die für die Aufgabenerfüllung nötige regelmäßige Präsenz sicherstelle. Auch schade es nicht, wenn die Beauftragten noch andere Dienstleistungen im Rahmen der pflegerischen Versorgung übernähmen, solange keine solch enge Verbindung zur pflegerischen Versorgung bestehe, dass diese als stationäre Vollversorgung zu qualifizieren wäre.

Quellen: Bundessozialgericht, SOLEXWohngruppenzuschlag

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