Anerkennung als NS-Verfolgte

Kranke und behinderte Menschen wurden in der Nazi-Zeit verfolgt und ermordet. Bis heute sind sie nicht vom Staat als Opfer anerkannt. Das wollte die „Lebenshilfe“ im November 2019 ändern, als sie im Zusammenhang mit einer Anhörung zu einem ähnlichen Thema anmahnte, dass Menschen, die wegen Behinderungen und psychischen Erkrankungen von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, immer noch nicht offiziell als Verfolgte des Nazi-Regimes anerkannt seien.

Gedenkstätte seit 2014

Seitdem sind wieder fast drei Jahre vergangen.
Die Ermordung kranker und behinderter Menschen, insbesondere die sogenannte Vernichtung lebensunwerten Lebens, – bewusst verharmlosend als „Euthanasie“ bezeichnet –, war Teil der nationalsozialistischen Rassenideologie. Erst im November 2011 fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, den ca. 300.000 Opfern dieser NSVerbrechen auch am historischen Ort der Täter in der Berliner Tiergartenstraße (Aktion T4) einen sichtbaren Gedenkort bereit zu stellen, der im September 2014 eingeweiht werden konnte.

Antrag der Linksfraktion

Nun gibt es einen Entschließungsantrag, eingebracht von der Linksfraktion, in dem der Bundestag anerkennen soll, dass die ca. 300.000 Opfer der NS-„Euthanasie“ und die ca. 400.000 Opfer von Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt werden und die gegen sie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen allesamt typisches NS-Unrecht waren. Die über das Bundesentschädigungsgesetz erfolgten Ausschlüsse ganzer Opfergruppen aus der Anerkennung als NS-Verfolgte haben keinerlei Gültigkeit mehr.

Kaum Wiedergutmachung bisher

Die Mehrzahl der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten erlebte nach 1945 keine angemessene Wiedergutmachung für das ihnen zugefügte Leid. Ihre Traumatisierung und Stigmatisierung, ihre gesundheitlichen Schäden werden bis heute in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen.

Entschädigung zweiter Klasse

Erst ab 1980 konnten Zwangssterilisierte Einmalzahlungen und monatliche Beihilfen als sog. Härteleistungen beantragen, „Euthanasie“-Geschädigte hingegen erst seit dem Jahr 1988, also eine „Entschädigung zweiter Klasse“. Für die meisten Geschädigten kamen diese Regelungen aber zu spät. Im Jahr 2013 erhielten zum Beispiel 428 Zwangssterilisierte und gerade einmal 2 „Euthanasie“-Geschädigte laufende monatliche Leistungen. Fast alle schwer traumatisierten Kinder, die von Zwangsscheidung der Eltern, Ermordung eines Elternteils oder Einweisung in NS-Kinderheime betroffen waren, gingen leer aus.

Juristisch Aufarbeitung mangelhaft

Auch bei der juristischen Aufarbeitung taten sich die Bundesrepublik und die ehemalige DDR schwer: Nach 1945 wurden zwar in allen Besatzungszonen Ermittlungsverfahren wegen der Krankenmorde eingeleitet, aber keine der Anstalten wurde geschlossen.

„tiefstehend Geisteskranke“

Vor allem Ärzte und Pflegekräfte standen hier im Fokus, wobei letztere in der Regel lediglich kürzere Haftstrafen zu befürchten hatten. Aufgrund groß angelegter Amnestien, Interventionen von Ärztekollegen, Politikern usw. in der Bundesrepublik musste jedoch keine/r der Täter*innen seine Haftstrafe voll verbüßen. Ab 1948/49 fielen die Urteile weit geringer aus, da Gerichte zumeist nur noch auf Totschlag oder Beihilfe erkannten und den Angeklagten einen sogenannten „Verbotsirrtum“ zugebilligten. Als strafmildernd wurde anerkannt, dass sich die Tötungen sowieso „ausschließlich auf tiefstehende Geisteskranke ohne wahrnehmbares Gefühlsleben“
beschränkt hätten.

Aufarbeitung dringend

Die Aufarbeitung dieser Verbrechen sollte zügig vorangetrieben werden. Eine längst überfällige Anerkennung der Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation als Verfolgte des Nationalsozialismus, könnte den Weg bereiten.

Quellen: Bundestag, FOKUS-Sozialrecht

Abbildung: (privat) Kindergrab in der Gedenkstätte Hadamar.jpg

Gedenken an die Euthanasie-Opfer

Anfang September wird an die Opfer der Euthanasie unter der Nazi-Herrschaft gedacht. In Berlin an der Tiergartenstraße 4 fand am 4. September eine Gedenkveranstaltung statt, um an die 300.000 Opfer der NS-Euthanasie zu erinnern.

In der Tiergartenstraße 4 entstanden diverse Tarnorganisationen (T4-Zentrale), die von da aus den Mord an psychisch Kranken und behinderten Menschen organisierte.

Kinder-Euthanasie

Die ersten Opfer der nationalsozialistischen Tötung „lebensunwerten Lebens“ waren Kinder. Mit der Gründung des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ durch die Kanzlei des Führers wurde im Frühjahr 1939 eine erste Tarnorganisation geschaffen, mit deren Hilfe kurz darauf die sogenannte Kinder-Euthanasie begonnen wurde, die Ermordung von Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahren mit größtenteils schweren und schwersten Behinderungen. Ähnlich wie kurz darauf wurden bereits hier die zur Tötung infrage kommenden Kinder mittels eines Meldebogens systematisch erfasst. Diese Gruppe der Opfer wurde noch im Sommer desselben Jahres erweitert, als der Reichsinnenminister am 18. August eine Meldepflicht für „missgebildete“ Neugeborene einführte. Insgesamt wurden im Rahmen der „Kinder-Euthanasie“ in beinahe 40 Kinderfachabteilungen von Krankenhäusern und Anstalten im gesamten Reichsgebiet schätzungsweise mindestens 5000 Kinder und Jugendliche durch die Verabreichung von Medikamenten wie Luminal, Morphin u. a. sowie systematische Unterernährung ermordet.

Befehl Hitlers

Im Oktober verfasste Hitler ein Schreiben, das er auf den 1. September 1939 (Kriegsbeginn) zurückdatierte und das folgenden Wortlaut besaß:
Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

Insgesamt wurden in sechs Anstalten Patienten durch das Giftgas Kohlenmonoxid in eigens hierfür eingerichteten Gaskammern ermordet: in Brandenburg an der Havel, Hadamar bei Limburg, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim bei Linz und Bernburg an der Saale. Das Gas lieferte die IG Farben, also die heutige BASF. Die Leichen wurden eingeäschert und die Angehörige über erfundene Todesursachen in Kenntnis gesetzt. Nicht in allen sechs Anstalten wurden zeitgleich Patienten umgebracht, vielmehr wurde die Anstalt Brandenburg im September 1940 von Bernburg, Grafeneck Ende 1940 von Hadamar abgelöst.

300.000 Morde

Die Morde waren der Öffentlichkeit bekannt. Es gab Proteste, vor allem auch von Seiten der Kirchen. Im Herbst 1941 ließ Hitler die Massenvergasungen an Anstaltsinsassen offiziell einstellen. Das bedeutet aber nicht das Ende der Morde.

Alleine die Aktion „T4“ kostete bis zu ihrer Einstellung im September 1941 Schätzungen zufolge etwa 70.000 Menschen das Leben. In den folgenden Tötungsaktionen starben wohl mindestens 30.000 weitere behinderte und kranke Menschen. Auch kranke Zwangsarbeiter und Häftlinge in Konzentrationslagern wurden gezielt getötet. Insgesamt wurden im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen in ganz Europa etwa 200.000 bis 300.000 Menschen getötet, die als nicht rentabel oder nützlich für die Gesellschaft galten. Opfervertreter gehen von einer noch größeren Zahl aus.

Hadamar

In der Gaskammer von Hadamar wurden von Januar bis August 1941 ca. 10.000 Patientinnen und Patienten getötet. Nach einer Pause von einem Jahr nahm die vormalige Landesheilanstalt Hadamar die Funktion einer Tötungsanstalt wieder auf. Als solche war sie eingebunden in die „zweite Mordphase“, in der vor allem mit überdosierten Medikamenten und gezielter Mangelernährung gemordet wurde. Von August 1942 bis Kriegsende starben noch einmal ca. 4.500 Menschen in Hadamar.

Wanderung gegen das Vergessen

Vor 25 Jahren, im Sommer 1995, hat sich eine Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung aus dem Rhein-Sieg-Kreis in den Zug gesetzt und fuhr nach Hadamar, um die dortige Gedenkstätte zu besuchen. Von Hadamar aus folgte eine fünf-tägige Wanderung durch den Westerwald zurück nach Hause.

Die Wanderung wurde zusammen mit der damaligen Leiterin der Gedenkstätte in Hadamar vorbereitet. Sie sollte in einfachen Worten verständlich machen, was damals unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Hadamar geschah. Es gab wenig Erfahrung, wie Menschen mit Behinderung sich mit dieser Thematik auseinander setzen könnten. Für die Wanderer waren die Informationen verständlich, sie kamen sehr bewegt zurück. Die Presse berichtete damals intensiv. Die Überschrift lautete „Wanderung gegen das Vergessen“. Für diese Wanderung erhielt die Gruppe den Elisabeth Preis des Diözesan-Caritasverbandes Köln für ein innovatives Projekt. Die Wanderung wurde 2011 wiederholt. Mittlerweile gab es ein Konzept für die Führung durch die Gedenkstätte in leichter Sprache vom Verein „Mensch zuerst“. Die Teilnehmer waren tief beeindruckt und haben verstanden, was dort geschehen ist. Die Wanderung wurde in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Gemeinde veranstaltet.

Das Foto oben zeigt ein Kindergrab an der Gedenkstätte Hadamar.

Quellen:
Bundeszentrale für politische Bildung,
Gedenkort T4,
Virtueller Gedenktag,
Aktion T4 in leichter Sprache,
Gedenkstätte Hadamar
Youtube: Kontaktgespräch Psychiatrie im Rahmen der Gedenkveranstaltung 2020

Abbildung: privat Hadamar.jpg