Fast 69.500 Kinder 2024 in Obhut genommen 

Wenn das familiäre Umfeld kein sicherer Ort ist, greift der Staat ein: 69.477 Kinder und Jugendliche wurden in Deutschland 2024 zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut genommen. Das waren gut 5100 Jungen und Mädchen weniger als im Jahr zuvor (-7 Prozent). Damit ist die Zahl der Schutzmaßnahmen laut Statistischem Bundesamt erstmals wieder zurückgegangen, nachdem sie die drei Jahre zuvor gestiegen war. 

Zurückzuführen ist der Rückgang laut Bundesamt auf den Rückgang von Inobhutnahmen nach unbegleiteten Einreisen aus dem Ausland: Deren Zahl ist 2024 im Vergleich zum Vorjahr um rund 8500 Fälle gesunken. Gleichzeitig stieg die Zahl der dringenden Kindeswohlgefährdungen um knapp 2600 Fälle (+10 Prozent) und durch Selbstmeldungen von betroffenen Jungen oder Mädchen um rund 850 Fälle (+10 Prozent).  

Die häufigsten Anlässe waren Überforderung der Eltern (17.478 Fälle), Vernachlässigung (8.481 Fälle), körperliche Misshandlung (7.375 Fälle), psychische Misshandlung (5.549 Fälle) oder sexuelle Gewalt (1.234 Fälle).  

Mehr Minderjährige als im Vorjahr (+10 Prozent) suchten aus eigenem Antrieb Hilfe beim Jugendamt. Nur ein Viertel (24 Prozent) kehrte im Anschluss an die Inobhutnahme an den vorherigen Aufenthaltsort zurück. 

Quelle: www.destatis.de

Bildquelle: AdobeStock_437079703

Vernachlässigung von Kindern im SGB XIV

Der Leitgedanke der Opferentschädigung ist im Wesentlichen in das seit Anfang 2024 gültige SGB XIV übernommen worden. Neben Opfern von Gewalttaten und Verbrechen haben nun aber auch Opfer von psychischer Gewalt – hierunter fallen insbesondere Fälle von sexueller Gewalt – Anspruch auf Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechts.

Tatbestand erhebliche Vernachlässigung

Zu den weiteren Tatbeständen, die Anspruch auf soziale Entschädigung auslösen können, gehört auch die „erhebliche Vernachlässigung von Kindern“. (§ 14 Abs. 1 Nummer 5 SGB XIV). Was dieser Begriff beinhaltet und wie er ausgelegt werden kann, versucht das BMAS nun in einem Rundschreiben an die zuständigen Behörden der Länder darzulegen.

Die erhebliche Vernachlässigung von Kindern ist einer Gewalttat gleichzusetzen. Der Tatbestand setzt zunächst eine Vernachlässigung voraus. Eigenständige Relevanz kommt dem Tatbestand bei Verhaltensweisen zu, die nicht bereits durch den Begriff der (physischen oder psychischen) Gewalt erfasst werden.

Unterlassung fürsorglichen Handelns

Der Begriff „Vernachlässigung“ ist im Gesetz nicht näher definiert. Da das Soziale Entschädigungsrecht auf gesundheitliche Schädigungen abstellt, bietet es sich an, an die im medizinischen Bereich gebräuchliche Auslegung des Begriffs anzuknüpfen. Die Leitfäden der Länder zum Kinderschutz, die über die Homepage der Bundesärztekammer abrufbar sind, definieren die Vernachlässigung als die wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen, das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes notwendig wäre.

Eine Vernachlässigung körperlicher Bedürfnisse liegt u. a. bei unzureichender Nahrung oder Verweigerung medizinisch notwendiger Hilfe vor. Eine Vernachlässigung seelischer Bedürfnisse kann etwa in mangelnder Zuwendung, fehlender sprachlicher Förderung oder in einem abwertenden Verhalten liegen. Zu beachten ist, dass es sich grundsätzlich um ein wiederholtes oder andauerndes Verhalten handeln muss.

Kein vorsätzliches Verhalten nötig

Ein vorsätzliches Verhalten ist nicht erforderlich; erfasst sind auch Fälle, in denen die Sorgeberechtigten vorsatzlos handeln. Ein Bezug zum Straftatbestand des § 225 StGB besteht nicht, sodass es nicht darauf ankommt, ob die Vernachlässigung böswillig erfolgte.

Erheblich

Die Vernachlässigung muss erheblich sein. Wann die Erheblichkeitsgrenze überschritten ist, kann nicht pauschal definiert werden. Vielmehr ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig, bei der insbesondere das Alter und die Einsichtsfähigkeit des Kindes eine Rolle spielen. So wird man ein dreijähriges Kind nicht, ein zwölfjähriges dagegen schon regelmäßig alleine zu Hause lassen können. Häufige Wiederholungen oder ein lange andauerndes Fehlverhalten können für die Erheblichkeit der Vernachlässigung sprechen, ebenso die Intensität des Verhaltens. Für die Annahme einer erheblichen Vernachlässigung genügt es nicht, wenn die Entwicklung des Kindes nicht bestmöglich verläuft.

Gilt für Kinder bis 14

Die Norm erfasst nur die erhebliche Vernachlässigung von Kindern. Kinder sind nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII Personen unter 14 Jahren. Abweichungen davon können sich beim Vorliegen einer Behinderung ergeben.

Altfälle

Bei Fällen, die vor dem Inkrafttreten des SGB XIV stattgefunden haben, muss geprüft werden, ob die Vernachlässigung Tatbestand des damals geltenden Opferentschädigungsgesetz war. Danach war eine „erhebliche Vernachlässigung“ nur dann gegeben, wenn die zugrundeliegende Tat oder Unterlassung geeignet war, schwere gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, und zudem nach dem StGB (§ 225) strafbar war.

Quellen: BMAS, SOLEX

Abbildung: pixabay.com fist-1131143_1280.jpg