Große Enttäuschung bei Betroffenen und deren Verbänden herrscht über das „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz„, das in der Bundestagssitzung am 20. Mai in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden soll. Nachzulesen etwa bei barrierefreiheitsgesetz.org. Hier unser Beitrag vom 2. April 2021 zum Referentenentwurf.
Noch kein Gesetz
Deutschland gehört zu den wenigen OECD-Staaten, die noch keine allgemeingültige Gesetzgebung zur Barrierefreiheit hat, insbesondere für wirtschaftliche Akteur/innen. Alltägliche Barrieren begegnen Menschen mit Behinderung immer wieder: Stufen vor Geschäften, fehlende zugängliche WC-Anlagen oder zugestellte Leitstreifen. Ein gutes Barrierefreiheitsstärkungsgesetz könnte diesen Zustand erheblich verbessern.
Umsetzung von EU-Vorgaben
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist Umsetzungsgesetz einer EU-Richtlinie, die bis 28. Juni 2022 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Die Richtline gibt Dinge vor, die geregelt werden müssen (Shortlist) und Dinge, die geregelt werden sollten (Longlist).
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt allerdings nur die Shortlist um, also das Minimum. Das führt beispielsweise dazu, dass ein Ticketautomat barrierefrei sein muss, aber nicht das Gebäude, in dem er steht.
Verschlechterungen
Darüber hinaus enthält der jetzt vorliegende Gesetzentwurf laut BAGFW (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege) gegenüber dem ersten Referentenentwurf auch noch einige Verschlechterungen.
- Stellt die Marktüberwachungsbehörde fest, dass Dienstleistungen nicht die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen, fordert sie den anbietenden Wirtschaftsakteur unverzüglich auf, innerhalb einer von ihr festgesetzten angemessenen Frist geeignete Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Kommt der Dienstleistungserbringer der Aufforderung nicht nach, kann die Marktüberwachungsbehörde die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Nichtkonformität der Dienstleistung abzustellen. Zur Durchsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen ist hier aus Sicht der BAGFW eine Kann-Vorschrift nicht ausreichend, vielmehr ist eine Soll-Vorschrift erforderlich.
- Anstatt die Übergangsbestimmungen zu kürzen, wurden sie für den Einsatz von Selbstbedienungsterminals noch einmal um fünf Jahre auf nun 15 Jahre nach Inbetriebnahme 2025 verlängert. Dies führt in Zeiten rasanten technischen Fortschritts zu einer nicht akzeptablen weiteren Verzögerung bei der Herstellung von Barrierefreiheit und führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen in einem wichtigen Themenfeld unangemessen benachteiligt werden. Die Übergangsfristen für die Dienstleistungserbringer sollten verkürzt werden.
Größere Barrierefreiheit gefordert
Die BAGFW fordert den Gesetzgeber in seiner Stellungnahme auf, noch im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens durch folgende Maßnahmen für eine größere Barrierefreiheit ernsthaft Sorge zu tragen:
- Die BAGFW schlägt vor, Anforderungen an die bauliche Umwelt der Produkte und Dienstleistungen analog zu § 8 BGG aufzunehmen.
- Der Geltungsbereich der Barrierefreiheit sollte auch regionale, städtische, vorstädtische Verkehrsdienste und Fahrzeuge umfassen.
- Der Anwendungsbereich des Gesetzes sollte auf beruflich genutzte Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet werden.
- Den Rechten von Verbraucher/innen, anerkannten Verbänden und qualifizierten Einrichtungen im Verwaltungsverfahren kommt durch § 32 eine besondere Rechtsstellung zu. Der vorliegende Regierungsentwurf ermächtigt bisher nur Menschen mit Hör- und Sprachbeeinträchtigungen ihre Verbraucherrechte zu nutzen. Menschen mit anderen Sinnesbeeinträchtigungen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten werden so vom Genuss ihrer Verbraucherrechte ausgeschlossen.
- Gemäß § 7 BGG ist die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen eine Benachteiligung. Die BAGFW fordert daher ausdrücklich, dass die Kosten für barrierefreie Information und Kommunikation in wahrnehmbarerer Form einheitlich geregelt werden. Die Rechte auf barrierefreie Dokumente gemäß § 10 BGG, auf Leichte Sprache gemäß § 11 BGG im Verwaltungsverfahren und angemessene Vorkehrungen gemäß § 7 BGG sind gesetzlich zu normieren. Die Kosten hierfür sind ebenfalls von den Marktüberwachungsbehörden zu tragen.
- Die Definition von Barrierefreiheit sollte vollumfänglich im Sinne des § 4 Behindertengleichstellungsgesetz erfolgen, ohne jedwede inhaltliche Kürzungen.
Darüber hinaus schlägt die BAGFW vor, begleitende Investitionen in Barrierefreiheit z. B. durch ein Bundesprogramm zu fördern. Dieses sollte vor allem auf Kleinstunternehmen ausgerichtet werden, die bisher von den EAA-Verpflichtungen weitestgehend ausgenommen sind.
Detaillierte Änderungsbedarfe
Hinsichtlich der detaillierten Änderungsbedarfe aus Sicht der BAGFW wird auf die weiterhin bestehenden Kritikpunkte in seiner Stellungnahme vom 12. März 2021 zum Referentenentwurf des Barrierefreiheitsgesetzes verwiesen.
Quellen: Paritätischer Wohlfahrtsverband, BADFW, dieneuenorm.de
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