Häusliche Pflege am Limit

Mehr als 80 Prozent der 4,1 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause von nahestehenden Menschen versorgt, entweder von diesen allein oder mit Hilfe von ambulanten Pflegediensten (3,3 Millionen). Nach einer vom Sozialverband VdK in Auftrag gegebene Studie ziehen auch in Zukunft die meisten Deutschen die Pflege zu Hause der in einem Pflegeheim vor. Nur zehn Prozent können sich vorstellen in einem Pflegeheim versorgt zu werden, bei den Pflegebedürftigen sind es sogar nur 2,3 Prozent.

12 Milliarden nicht genutzt

Zur Unterstützung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen sieht das SGB XI eine Reihe Leistungen vor, von Pflegesachleistungen über Pflegegeld bis Pflegehilfsmittel. Nun ergab die erwähnte Online-Befragung des VDK mit 56.000 Teilnehmern, dass weniger als die Hälfte der Leistungen, auf die sie Anspruch hätten, überhaupt abgerufen wird, je nach Art der Leistung zwischen 63 und 93 Prozent. Damit werden Pflegeleistungen in Höhe von 12 Milliarden Euro nicht genutzt.

Die Studie zeigt auch, woran das liegt. Beklagt werden

  • zu wenig Kapazitäten
  • zu viel Bürokratie
  • zu hohe Zuzahlungen

Beispiel Hilfe im Haushalt:

Demnach stehen monatlich 125 Euro für die Unterstützung im Haushalt zur Verfügung. 80 Prozent der Pflegebedürftigen rufen diesen Betrag nicht ab, damit entgehen ihnen jährlich knapp vier Milliarden Euro. Für die Inanspruchnahme muss den Angaben zufolge insbesondere nachgewiesen werden, dass anerkannte Dienstleister im Haushalt helfen. Jedes Bundesland regele das allerdings unterschiedlich. Hilfen in Baden-Württemberg etwa müssen eine bis zu 120-stündige Fortbildung nachweisen.

Beispiel Kurzzeitpflege:

Kurzzeitpflege, die Angehörigen bei Krankheit oder zur Erholung eine Auszeit ermöglichen soll, von 86 Prozent noch nie beantragt worden sei. Die Voraussetzungen, die pflegende Angehörige erbringen müssten, um Leistungen abzurufen, seien „teilweise absurd und unangebracht“, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele der „Welt am Sonntag“. Ihr Verband fordert, einige der Leistungen in einem Budget zusammenzufassen und dieses Pflegebedürftigen unkompliziert zur Verfügung zu stellen.

zu wenig Plätze

Nicht genügend Kapazitäten gibt es bei den Plätzen für Tagespflege. Der VDK fordert daher einen Rechtsanspruch auf einen Tagespflegeplatz, so wie es einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz gebe.

Wann kommt das flexibel einsetzbare Entlastungsbudget?

Sinnvoll sei ein einheitliches Budget, in das alle Ansprüche einfließen. Dann würden nicht genutzte Leistungen auch nicht mehr verfallen. Man nutzt das Geld für die Leistung, die einem was bringt. Zudem muss es möglich sein, dass damit auch die Personen bezahlt werden, die die Betroffenen schnell und verlässlich unterstützen und entlasten können: die Nachbarin, jemand aus dem Freundeskreis, Ehrenamtliche. Es würde das System zudem übersichtlicher machen und vereinfachen. Schon 2020 gab es dazu ein Diskussionspapier des Pflegebeauftragten der Bundesregierung

Bessere Beratung

Nötig sei auch ein verbessertes und unabhängiges Beratungsangebot.  Denn die Studie zeige auch: Erhält ein pflegender Angehöriger keine Beratung, werden deutlich weniger Pflegeleistungen in Anspruch genommen. Wird beraten, steigt die Wahrscheinlichkeit eine Pflegeleistung zu nutzen um ein Vielfaches – etwa bei der Tagespflege von 17 auf 83 Prozent.

Pflegende am Limit

Die Befragung zeigt auch, dass den pflegenden Angehörigen selbst durch die Pflege und vor allem durch mangelnde Unterstützung gesundheitlicher Schaden droht. Die Mehrheit der Pflegenden sind weiblich (72 Prozent), Die Hälfte der Pflegenden ist selbst im Rentenalter. 59 Prozent gaben an, wegen der Pflege die eigene Gesundheit zu vernachlässigen.

Kampagne des VDK

Um auf die Missstände aufmerksam zu machen und dringende Reformen zu fordern, startete der VDK am 9.5.2022 eine Kampagne unter der Überschrift „Nächstenpflege braucht Kraft und Unterstützung“. Die Forderungen des VdK, die Studienergebnisse, weitere Hintergrundinformationen und Bildmaterial gibt es auf der Kampagnen-Seite des VDK, ebenso Informationen für die Presse.

Quellen: VDK, Tagesschau, T-Online, SOLEX, FOKUS-Sozialrecht

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Einschränkung der Flexibilität von Verhinderungspflege

Das Bundesgesundheitsministerium hat Anfang November 2020 ein Eckpunktepapier zur Pflegereform 2021 vorgestellt. Darüber berichteten wir am 17. November.

Vor allem ein Absatz aus diesem Eckpunktepapier sorgt für Aufregung und wird in einem in einem Brief der Fachverbände für Menschen mit Behinderung an Jens Spahn scharf kritisiert.

Worum geht es?

Unter Punkt II der BMG-Eckpunkte steht im dritten Absatz:
Verhinderungspflege zielgenau ausgestalten: Zudem soll ein Teil der Leistung der Verhinderungspflege für die Ersatzpflege während einer längeren Verhinderung der Pflegeperson vorbehalten bleiben. Für die stundenweise Inanspruchnahme stehen deshalb ab dem 1. Juli 2022 maximal 40 Prozent des Gesamtjahresbetrags zur Verfügung.

Damit soll die der größte Teil der Verhinderungspflege künftig einer längeren Verhinderung der Pflegeperson vorbehalten bleiben. Nur noch weniger als die Hälfte steht dann für kurzzeitige oder stundenweise Inanspruchnahme der Verhinderungspflege.

Jetztige Regelung

Ist eine vom Pflegebedürftigen selbst beschaffte Pflegeperson verhindert, die Pflege durchzuführen, und hat diese Pflegekraft den Pflegebedürftigen, der zum Zeitpunkt der Verhinderung mindestens in Pflegegrad 2 eingestuft sein muss, 6 Monate vorher in seiner häuslichen Umgebung gepflegt, so übernimmt die Pflegekasse für 6 Wochen (= 42 Kalendertage) die nachgewiesenen Kosten für eine Ersatzpflegekraft (vgl. § 39 Abs. 1 SGB XI, sog. Verhinderungspflege oder auch Ersatzpflege). Hier ist unabhängig von der Pflegestufe eine Obergrenze der jährlichen Aufwendungen für die Ersatzkraft in Höhe von 1.612 EUR vorgesehen.

Kombinieren von Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege

Macht der pflegende Angehörige bzw. die private Pflegeperson Urlaub oder ist sie anderweitig (z.B. durch Krankheit) vorübergehend verhindert, die Pflege durchzuführen, übernimmt die Pflegeversicherung die Kosten für eine Ersatzpflege. Seit 01.01.2016 ist eine Ersatzpflege bis zu 6 Wochen pro Jahr möglich. Außerdem kann bis zu 50% des Leistungsbetrags für Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI (das sind bis zu 806 EUR) zusätzlich für Verhinderungspflege verwendet werden. Dies kommt insbesondere den Anspruchsberechtigten zugute, die eine längere Ersatzpflege benötigen und für die es keine Betreuung in einer geeigneten vollstationären Kurzzeitpflegeeinrichtung gibt. Die Leistungen für die Verhinderungspflege lassen sich somit auf maximal 2.418 EUR ausdehnen. Der für die Verhinderungspflege in Anspruch genommene Erhöhungsbetrag wird dann auf den Leistungsbetrag für eine Kurzzeitpflege angerechnet. Diese Möglichkeit besteht folglich nur, wenn für diesen Betrag noch keine Kurzzeitpflege in Anspruch genommen wurde. Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege können also miteinander kombiniert werden, da eine ähnliche Wahlmöglichkeit auch bei der Kurzzeitpflege eingeräumt wird.

Flexibel einsetzbar

Anders als die Kurzzeitpflege, die nur in bestimmten stationären Einrichtungen in Anspruch genommen werden darf, ist die Verhinderungspflege sehr flexibel einsetzbar. So kann sie beispielsweise durch nicht erwerbsmäßig pflegende Personen, wie Angehörige oder Nachbarn oder Familienunterstützende Dienste, erbracht werden. Sie kann mehrere Wochen am Stück, aber auch tage- oder stundenweise in Anspruch genommen werden. Aufgrund ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeiten ist die Verhinderungspflege die wichtigste Entlastungsleistung in der Pflegeversicherung für Familien mit behinderten Kindern.

Einschränkung der Flexibilität

Würde die Möglichkeit zur stundenweise Inanspruchnahme der Verhinderungspflege auf 40 Prozent begrenzt, bedeute dies eine drastische Einschränkung der Flexibilität, so die Fachverbände.

Gerade die Möglichkeit, Verhinderungspflege stundenweise in Anspruch zu nehmen, sei für Familien mit behinderten Kindern von besonderer Bedeutung, da hierdurch kurzfristige Auszeiten von der Pflege im nicht immer planbaren Pflege- und Familienalltag realisiert werden könnten. Für viele Familien sei die stundenweise Inanspruchnahme auch die einzige Möglichkeit, Verhinderungspflege geltend zu machen, da insbesondere für Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf nicht genügend geeignete Ersatzpflegeangebote für längere Zeiträume zur Verfügung stünden.

Entlastungsbudget?

Im Konzeptpapier zum Entlastungsbudget 2.0 des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus wurde vorgschlagen, nahezu alle Leistungen bei häuslicher Pflege in zwei flexibel abrufbaren Budgets, dem Pflege- und Entlastungsbudget, zusammenzufassen. Im Eckpunktepapier des BMG ist davon als „Entlastungsbudget“ nur noch die Zusammenlegung von Kurzzeit- und Verhinderungspflege mit einem Jahresbudget von 3.300 Euro geblieben, das von pflegebedürftigen Klienten und deren Angehörigen flexibel eingesetzt werden könne. Was dabei „flexibel“ bedeutet, wird nicht weiter erklärt.
Schon heute können bis zu 3.224 € pro Kalenderjahr eingesetzt werden (1.612 € nach § 42 SGB XI und 1.612 € aus unverbrauchten Mitteln für Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI). Bei der Verhinderungspflege sind bisher 806 € weniger möglich, also 2.418 Euro, da hier nur bis zu 50 % der unverbrauchten Mittel für Kurzzeitpflege zusätzlich verwendet werden können.

Das Eckpunktepapier erschafft also ein Entlastungsbudget, in dem Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege zusammengefasst werden. Aber offensichtlich nicht so richtig, denn im nächsten Punkt des Papiers existiert die Verhinderungspflege wieder, von der nur die von den Verbänden kritisierten 40 Prozent tage- oder stundenweise in Anspruch genommen werden.

Es scheint also noch eine Menge Diskussionsstoff zu geben. Gespannt kann man auf den ersten Referentenentwurf sein.

Nicht verbrauchte Beträge aus 2020

Aufgrund der Corona-Pandemie sind im laufenden Jahr 2020 viele Ersatzpflegeangebote aus Gründen des Infektionsschutzes und wegen angeordneter Kontaktbeschränkungen entfallen. Zahlreiche Familien konnten deshalb ihren diesjährigen Betrag für Verhinderungspflege in Höhe von bis zu 2.418 Euro nicht oder nicht vollständig nutzen. Mangels Übertragbarkeit würden die nicht in Anspruch genommenen Beträge Ende des Jahres verfallen.

Die Fachverbände fordern in ihrem Schreiben den Minister auf, sicherzustellen, dass nicht verbrauchte Beträge der Verhinderungspflege aus dem Jahr 2020 auf das Jahr 2021 übertragen werden können.

Quellen: Lebenshilfe, BMG, SOLEX

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