Im Januar 2022 wurden die Regelsätze wie geplant nach den Vorschriften des Regelbedarfsermittlungsgesetz und der Regelbedarfsfortschreibungsverordnung erhöht. Die Erhöhung fiel mit 3 Euro, für Kinder unter 6 Jahren nur 2 Euro, ziemlich mager aus. Und das bei einer auch Anfang des Jahres grassierenden Inflation zwischen 7 und 8 Prozent. Auch der später eingeführte Kinderbonus von 20 Euro im Monat und die Einmalzahlung von 200 Euro konnte an der Prekären Situation der Regelsatzempfänger nicht viel ändern.
Vorgaben des Verfassungsrichts ignoriert
Immerhin hatte die Bundesregierung sich ja an das geltende Recht gehalten. Allerdings gibt es seit 2014 ein Urteil des Bundeverfassungsgerichtes, in dem eindeutig klargemacht wird, was bei extremen Preissteigerungen zu tun ist: „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden (oben C II 2 e bb). Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten“.
Schon 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht klar: „Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht“.
Musterstreitverfahren
Auf diese Vorgaben der Verfassungsrichter berufen sich der Sozialverband Deutschland (SoVD) und der Verband der Kriegsopfer (VdK). Die minimale Erhöhung der Regelsätze Anfang 2022 verstößt aus Sicht beider Verbände gegen den verfassungsmäßigen Auftrag, das Existenzminimum zeitnah sicherzustellen.
Es handelt sich um ein Musterstreitverfahren. Ein Musterstreitverfahren ist ein Verfahren, das die Verbände stellvertretend mit einigen Klägerinnen und Klägern im Fall von ungeklärten juristischen Fragen führt, die eine Vielzahl ihrer Mitglieder betrifft. Kommt es zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, können auch alle anderen, die von dieser Frage betroffen sind, davon profitieren.
Langer Weg
Die beiden Sozialverbände müssen in ihrer Klage zunächst ein behördliches Vorverfahren und die folgenden gerichtlichen Instanzen durchlaufen, um dann eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreichen zu können. Da die meisten Bescheide rechtskräftig sind, müssen Musterklägerinnen und -kläger also zunächst einen Überprüfungsantrag gegen ihren Regelsatzbescheid stellen mit der Begründung, dass die Höhe des derzeitigen Regelsatzes nicht ausreichend ist, um das Existenzminimum zu decken. Die zuständige Behörde wird dann einen Bescheid erteilen, gegen den der VdK und der SoVD jeweils Widerspruch einlegen können. Wird dieser zurückgewiesen, wird der VdK dagegen vor dem Sozialgericht klagen. Sollte die Klage erfolglos sein, kann Berufung am Landessozialgericht erhoben werden. Wird auch dort die Berufung abgewiesen, kann der VdK das Verfahren dem Bundessozialgericht vorlegen. Bei einem negativen Urteil ist schließlich der Weg frei zum Bundesverfassungsgericht.
Quellen: VDK, SoVD, Bundesverfassungsgericht, FOKUS-Sozialrecht
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