Wohnkostenlücke – Leben unter dem Existenzminimum

Am 7. August 25 erschien im Spiegel ein Artikel über das Leben mit Bürgergeld, wenn die Miete über der „Angemessenheitsgrenze“ liegt. Im Untertitel heißt es: „Wie lebt es sich unter dem Existenzminimum?“

Eine Woche zuvor, am 31.7.25 beantwortete die Bundesregierung eine „kleine Anfrage“ der Linksfraktion im Bundestag zu eben diesem Thema.

Existenzminimum und Angemessenheit

Die Höhe des Bürgergeldes, so ist es gesetzlich geregelt, soll den Mindestbedarf der Lebenshaltungskosten der Leistungsempfangenden decken, also das Existenzminimum. Nicht eingerechnet sind die Wohnkosten. Die zahlt das Jobcenter zusätzlich. Wenn die Kosten „angemessen“ sind. Sind die Wohnkosten aber höher, muss der Leistungsempfangende den überschießenden Teil von seinem Existenzminimum abzweigen. Die Richtwerte für die Angemessenheit werden kommunal berechnet, was jedoch extrem schwierig ist und immer wieder zu Lücken beim Existenzminimum führt. Diese entstehende „Wohnkostenlücke“ bestreiten die Betroffenen oft aus dem Regelsatz, weil es schlicht keinen günstigeren Wohnraum gibt. Dadurch wird das Existenzminimum unterschritten: Das Geld fehlt dann für Nahrungsmittel, Kleidung, Bildung usw.

Im Durchschnitt über 100 Euro unter dem Existenzminimum

Aus der Antwort der Bundesregierung ergeben sich erschreckende Zahlen: Die Differenz zwischen tatsächlichen und anerkannten laufenden Kosten für Leistungsberechtigte nach dem SGB II für Unterkunft und Heizung hat sich im Jahr 2024 insgesamt auf rund 494 Millionen Euro erhöht. 334.000 Bedarfsgemeinschaften, also 12,6 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften, bekamen nicht die tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung erstattet (2023: 12,2 Prozent). Diejenigen, die davon betroffen waren, mussten durchschnittlich rund 116 Euro im Monat (+ 13 % zu 2023: 103 Euro im Monat), rund 17 % der tatsächlichen Kosten (2023: 16 %), aus Regelbedarf oder Ersparnissen selbst finanzieren.

Jedes Jobcenter rechnet anders

Die ausführlichen Zahlen in der Antwort der Bundesregierung legen nahe, dass die Jobcenter sehr unterschiedlich „ihre“ Angemessenheitsgrenze definieren. So kappen einige Jobcenter schon bei kleinsten Überschreitungen die Kostenerstattung, andere erst, wenn die Wohkosten deutlich höher liegen. Scheinbar ist es Glücksache, ob jemand mit einer Wohnkostenlücke zurechtkommen muss oder nicht. Viele Kommunen hinken den steigenden Mietpreisen arg hinterher und rechnen mit völlig unrealistischen Mieten.

Lösungen?

Die Begrenzung der Wohnkosten im Bürgergeld, die Kanzler Merz neulich gefordert hat, wird von der Realität also schon längst übertroffen.

Über mögliche Lösungsansätze berichteten wir hier im Mai 25 und stellten dazu Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vor.

Quellen: SPIEGEL, Bundestag, MDR, IAB, FOKUS-Sozialrecht, Fraktion die Linke (Pressemitteilung vom 8.8.25)

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Wohnkostenlücke

Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt: Rund 70 Prozent der befragten SGB-II-Leistungsbeziehenden machen sich „etwas Sorgen“ oder „große Sorgen“, dass das Jobcenter nicht die vollen Kosten der Unterkunft übernimmt – und sie dadurch ihre Wohnung verlieren könnten. Darauf weist der aktuelle Tacheles-Newsletter hin.

Während die neue Bundesregierung bemüht ist, die Reform des SGB II wieder zurückzufahren und gleichzeitig die verfassungsrechtlich bedenklichen Sanktionen wieder auszuweiten, beschreibt die IAB-Untersuchung, was SGB II – Beziehende tatsächlich auf den Nägeln brennt.

Angemessenheitsgrenzen und Inflation

Die Wohnkostenlücke im SGB II entsteht im Wesentlichen durch ein Auseinanderdriften zwischen den tatsächlich zu zahlenden Mieten und den vom Jobcenter in „angemessener Höhe“ anerkannten Kosten (den so genannten Angemessenheitsgrenzen). Hinzu kommen regionale und strukturelle Faktoren:

  1. Steigende Mieten versus starre Obergrenzen
    Seit dem Beginn des Wohnungsbooms 2010 sind die Neuvertragsmieten in Deutschland im Schnitt inflationsbereinigt um etwa 4,2 % über 24 Monate gestiegen – in den sieben größten Städten sogar um 4,8 %. Die Jobcenter passen die Angemessenheitsgrenzen jedoch nur sukzessive an diesen Anstieg an, sodass viele Haushalte inzwischen oberhalb der festgelegten Mietobergrenzen wohnen und daher nur einen Teil ihrer tatsächlichen Kosten erstattet bekommen.
  2. Regionale Disparitäten
    Die Kosten der Unterkunft variieren stark: Im Großraum München liegen die durchschnittlichen KdU bei 609 EUR pro Bedarfsgemeinschaft, im ländlichen Raum zum Teil nur bei 243 EUR. Wo die Mietobergrenzen nicht mit der Marktentwicklung Schritt halten, kommt es entsprechend häufig zu Kürzungen.
  3. Zukünftige Mieterhöhungen und Haushaltsänderungen
    Selbst wenn die aktuelle Miete noch unter der Angemessenheitsgrenze liegt, können künftige Mieterhöhungen oder der Auszug eines weiteren Haushaltsmitglieds dazu führen, dass die Grenze überschritten wird. Dieses Risiko verstärkt die Unsicherheit und Sorge um den Verbleib in der Wohnung.
  4. Unzureichende Karenzregelung für Unterkunftskosten
    Obwohl mit dem Bürgergeld seit 2023 eine zwölfmonatige Karenzzeit eingeführt wurde, in der kalte Wohnkosten ohne Prüfung erstattet werden, betrifft dies nur die Anfangsphase des Leistungsbezugs und schließt Heizkosten aus. Langfristig bleibt damit eine Lücke bestehen, sobald die Karenzzeit endet.

Was wäre nötig?

Um die Wohnkostenlücke zu verringern und die Wohnsicherheit von SGB-II-Empfänger*innen zu stärken, bieten sich verschiedene Ansätze an:

  1. Dynamische Anpassung der Angemessenheitsgrenzen
    Die Mietobergrenzen sollten in kürzeren Intervallen und stärker regional differenziert an die tatsächlichen Angebotsmieten angepasst werden. Eine schnellere Nachjustierung würde verhindern, dass wachsende Wohnkosten zu Kürzungen führen.
  2. Ausweitung und Automatisierung der Karenzzeit
    Die heutige Karenzzeit für kalte Wohnkosten könnte auf Heizkosten ausgeweitet und – abhängig von regionaler Marktlage – flexibel verlängert werden, um Betroffenen mehr Planungssicherheit zu geben.
  3. Stärkung des Wohngelds und des sozialen Wohnungsbaus
    Parallel zur Grundsicherung kann der Zugang zu Wohngeld erleichtert und das Wohngeldstärkungsgesetz weiterentwickelt werden. Auch der Bau bezahlbarer Sozialwohnungen muss deutlich ausgeweitet werden, um das Angebot an günstigen Wohnungen zu erhöhen.
  4. Rechtsschutz und Beratungsangebote in Jobcentern
    Viele Betroffene (45 %) tragen die Mehrkosten selbst, nur 22 % können beim Jobcenter erfolgreich höhere Kosten durchsetzen und 8 % gehen juristisch vor. Eine Verstärkung rechtlicher Beratungs- und Unterstützungsleistungen in den Jobcentern (z. B. durch Bürgergeldcoaches mit wohnungspolitischem Fachwissen) könnte helfen, Betroffenen zu ihrer vollen Kostenübernahme zu verhelfen.
  5. Wohnungssicherungskonzepte und Kooperationsmodelle
    Jobcenter, Kommunen und Wohnungsgesellschaften sollten eng zusammenarbeiten, um präventive Wohnungssicherungskonzepte zu entwickeln – von Frühwarnsystemen bei Mietrückständen bis zu dezentralen Case-Management-Teams, die bei drohender Wohnungslosigkeit schnell vermitteln.

Können die Sorgen gesenkt werden?

Durch diese Maßnahmen ließe sich die Kluft zwischen realen Mietkosten und den anerkannten Unterkunftskosten verkleinern, die Sorgen der Betroffenen deutlich senken und letztlich auch die Integration in den Arbeitsmarkt fördern. Die Erfolgsaussichten, dass vernünftige Lösungen umgesetzt werden, sind leider zur Zeit eher gering.

Quellen: tacheles e.V., IAB-Forum

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