BSG schließt Regelungslücke

Am 19. September 2024 hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Revisionsverfahren B 9 SB 2/23 R entschieden, dass die Klägerin Anspruch auf Erstattung des von ihr für eine Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen gezahlten Eigenanteils in Höhe von 91 Euro hat. Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen‑Bremen vom 28. September 2023 wurde aufgehoben, und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 24. Juni 2022 zurückgewiesen.

Hilfe zur Pflege

Die 1940 geborene Klägerin ist schwerbehindert (GdB 90) mit dem Merkzeichen G und lebt in einer stationären Pflegeeinrichtung. Sie bezieht nach § 65 SGB XII ausschließlich Hilfe zur Pflege, nicht jedoch laufende Leistungen zum Lebensunterhalt aus dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII, da sie über eigenes Renteneinkommen verfügt. Im Juli 2021 wurde ihr Antrag auf eine kostenlose Wertmarke zur Nutzung des ÖPNV abgelehnt, da sie nach Auffassung der Behörde nicht zu dem im Gesetz genannten Personenkreis gehöre. Die Heimkosten wurden teilweise vom Sozialhilfeträger übernommen; die Wertmarke in Höhe von 91 Euro bezahlte die Klägerin selbst mithilfe eines Darlehens.

Nicht im Kreis der Anspruchsberechtigten

Das Sozialgericht Braunschweig gab der Klage statt und verurteilte den Beklagten zur Erstattung. Auf die Berufung des Beklagten setzte das Landessozialgericht die Kostenregelung außer Kraft mit der Begründung, § 228 Abs. 4 Nr. 2 SGB IX erfasse nur Bezieher laufender Leistungen zum Lebensunterhalt nach den Kapiteln III und IV des SGB XII. Die Klägerin falle als ausschließliche Bezieherin von Hilfe zur Pflege nicht in den Kreis der Anspruchsberechtigten.

BSG erkennt Regelungslücke

Das BSG sah den Erstattungsanspruch als öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch nach § 228 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Nr. 2 SGB IX (in der ab 1.1.2018 geltenden Fassung) anwendbar. Zwar nenne der Gesetzeswortlaut nur „laufende Leistungen zum Lebensunterhalt“ nach den Kapiteln III und IV des SGB XII als Tatbestandsvoraussetzung. Jedoch sei die Norm analogiefähig, weil durch den Systemwechsel von 2005 im SGB IX eine planwidrige Regelungslücke entstanden sei: Heimbewohner, die Hilfe zur Pflege bezögen, wurden ungewollt von der Befreiungstatbestandsregelung ausgenommen.

Analogieschluss

Das BSG stellte klar, dass für die Anspruchsvoraussetzungen die Zugehörigkeit zum Existenzsicherungssystem der Sozialhilfe genügt – unabhängig davon, ob die Hilfebedürftigkeit durch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts oder durch Hilfe zur Pflege gedeckt wird. Insbesondere bei Heimbewohnern mit einem Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach § 65 SGB XII sei eine analoge Anwendung gerechtfertigt, da keine gesetzgeberische Absicht erkennbar sei, diese besonders hilfebedürftige Gruppe auszuschließen, und kein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung vorliege.

Revision begründet

Die Revision der Klägerin war zulässig und begründet. Das Bundessozialgericht hat das LSG-Urteil aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, die 91 Euro zu erstatten. Mit diesem Urteil schließt das BSG eine Lücke im systematischen Schutz schwerbehinderter Heimbewohner und stellt deren Gleichbehandlung sicher.

Quellen: Bundessozialgericht, SOLEX, Walhalla-Verlag, Beraterbrief Pflege, Ausgabe 2025/08

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Höhere Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung

Die Eigenbeteiligung („Wertmarke“) wird ebenso wie die Ausgleichsabgabe und die Kinderbetreuungskosten im Rahmen von Reha-Maßnahmen durch Bekanntmachung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales bekannt gegeben. Und zwar immer dann, wenn sich die Bezugsgröße seit der letzten Bekanntmachung dieser Art um wenigstens 10 Prozent erhöht hat. Dieses Jahr war es mit der Erhöhnung der Bezugsgröße zum 1. Januar 2025 von bisher 39.480 Euro auf 44.940 Euro so weit.

Anfang Dezember – kurz vor Ampel-Ende – veröffentlichte das BMAS die Bekanntmachung über die Anpassung der Ausgleichsabgabe, der Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung, der übernahmefähigen Kinderbetreuungskosten und der Finanzierung der beiden Interessenvertretungen in Werkstätten für behinderte Menschen auf Bundesebene. Folgende Änderungen gelten somit ab 1. Januar 2025:

Teurere Wertmarke

Nach § 228 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (Merkzeichen G), außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), hilflos (Merkzeichen H) oder gehörlos sind (Merkzeichen GI), von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX und eines mit einer gültigen Wertmarke versehenen Beiblattes im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern.

Das Beiblatt mit Wertmarke wird auf Antrag gegen Entrichtung des Eigenbeteiligungsbetrages von 104 EUR (vorher: 91 EUR) für ein Jahr oder 53 EUR (vorher: 46 EUR) für ein halbes Jahr ausgegeben. Die Wertmarke wird auf Antrag unentgeltlich ausgegeben an schwerbehinderte Menschen, die blind (Merkzeichen BI) oder hilflos (Merkzeichen H) sind oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem SGB II oder SGB XIV, dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe) oder dem SGB II erhalten.

Ausgleichsabgabe

Arbeitgeber sind laut Gesetz dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Kommen sie ihrer Beschäftigungspflicht nur in Teilen oder gar nicht nach, müssen sie eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt zahlen.

Die Ausgleichsabgabe war bereits 2024 angehoben worden. Da die Abgabe immer rückwirkend für das vergangene Jahr gezahlt wird, wird die höhere Ausgleichsabgabe erstmalig 2025 fällig. Zum 1.1.2025 wird sie nochmals erhöht (dann in 2026 fällig). Die Ausgleichsabgabe ist gestaffelt nach Betriebsgröße und nach der Höhe der Beschäftigungsquote (siehe Bekanntmachung im Bundesanzeiger).

Kinderbetreuungskosten während Reha

Während einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitationsmaßnahme können als ergänzende Leistungen zur Reha unter bestimmten Voraussetzungen Kinderbetreuungskosten erstattet werden. Zum 1. Januar 2025 erhöht sich der monatliche Höchstbetrag für Kinderbetreuungskosten von 180 EUR auf 200 EUR.

Beträge zur Kostendeckung in Werkstätten für behinderte Menschen

Die Kosten, die durch die Tätigkeit der beiden Interessenvertretungen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) auf Bundesebene entstehen, trägt jeweils der zuständige Träger. Der zuständige Träger überweist den beiden Interessenvertretungen (Werkstatträte Deutschland e. V. (WRD) und Externer Link:Starke.Frauen.Machen. e.V.) jeweils zum 1. Februar eines Jahres einen Betrag für jeden Werkbeschäftigten. Dieser jährliche Betrag steigt in 2025 von derzeit 1,81 Euro auf 2,06 Euro.

Quellen: BMAS, VDK, FOKUS-Sozialrecht

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Mehr Eigenbeteiligung im ÖPNV

Nach § 228 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (Merkzeichen G), außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), hilflos (Merkzeichen H) oder gehörlos sind (Merkzeichen GI), von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX und eines mit einer gültigen Wertmarke versehenen Beiblattes im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern.

Kosten der Wertmarke

Das Beiblatt mit Wertmarke wird auf Antrag gegen Entrichtung des Eigenbeteiligungsbetrages für ein Jahr oder für ein halbes Jahr ausgegeben.

Seit 1.1.2021 liegt die Eigenbeteiligung für

  • ein halbes Jahr bei 46 Euro (vorher 40 Euro)
  • ein ganzes Jahr bei 91 Euro (vorher 80 Euro)

Kostenlose Wertmarke

Die Wertmarke wird auf Antrag unentgeltlich ausgegeben an schwerbehinderte Menschen, die blind (Merkzeichen BI) oder hilflos (Merkzeichen H) sind oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII, dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe) oder den §§ 27a und 27d BVG erhalten (vgl. § 228 Abs. 4 SGB IX). Schwerkriegsbeschädigte und ihnen gleichgestellte Personen (z. B. NS-Verfolgte), die mindestens seit 1. Oktober 1979 wegen ihrer Schädigungsfolgen die Freifahrtberechtigung haben, erhalten auf Antrag die Wertmarke ebenfalls kostenlos.

Freie Fahrt oder weniger KFZ-Steuer

Freifahrtberechtigung und Kraftfahrzeugsteuerermäßigung können nicht nebeneinander in Anspruch genommen werden. Schwerbehinderte Menschen, die an Stelle der unentgeltlichen Beförderung die Kraftfahrzeugsteuerermäßigung in Anspruch nehmen wollen, erhalten auf Antrag ein Beiblatt ohne Wertmarke. Bei Einräumung der Kraftfahrzeugsteuerermäßigung wird das Beiblatt mit einem Vermerk des zuständigen Finanzamtes versehen. An die Entscheidung für die Freifahrtberechtigung oder die Steuerermäßigung ist der schwerbehinderte Mensch nicht auf Dauer gebunden. Ein späterer Wechsel ist ohne weiteres möglich.

Ständige Begleitung

Sofern der schwerbehinderte Mensch bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zur Mitnahme einer ständigen Begleitung berechtigt ist und dies im Ausweis eingetragen ist (Merkzeichen B), wird auch die Begleitperson des Schwerbehinderten unentgeltlich befördert. Nicht möglich ist dagegen die gegenseitige Begleitung von Schwerbehinderten, deren Ausweise das Merkzeichen B tragen. Die notwendige Begleitperson wird auch dann unentgeltlich befördert, wenn der schwerbehinderte Mensch keine Wertmarke beantragt hat und deshalb selbst nicht freifahrtberechtigt ist.

Fernverkehr

Im Fernverkehr beschränkt sich die unentgeltliche Beförderung auf das Handgepäck, einen Krankenfahrstuhl, soweit die Beschaffenheit des Verkehrsmittels dies zulässt, sonstige orthopädische Hilfsmittel und den Führhund. Enthält der Ausweis das Merkzeichen B, wird die Begleitperson auch im Fernverkehr unentgeltlich befördert. Der schwerbehinderte Mensch selbst hat keinen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Fernverkehr.

Einschränkung der Bewegungsfähigkeit

In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Begleitperson

Zur Mitnahme einer Begleitperson sind schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder andere darstellt.

Erhöhung der Ausgleichsabgabe

Die Erhöhung der Eigenbeiteiligung ist rechtlich an die Erhöhung der Ausgleichsabgabe gekoppelt. Die Ausgleichsabgabe zahlen Unternehmen, die der gesetzlichen Verpflichtung zur Einstellung von schwerbehinderten Menschen nicht nachkommen können oder wollen.

Die Ausgleichsabgabe wird immer dann erhöht, wenn sich die Bezugsgröße seit der letzten Neubestimmung der Beträge der Ausgleichsabgabe um wenigstens 10 Prozent erhöht hat. (§ 160 SGB IX). Zum gleichen Prozentsatz und zum gleichen Zeitpunkt erhöht sich dann auch die Eigenbeteiligung bei der Wertmarke. (§ 228 SGB IX).

Quelle: BMAS, Thomas Knoche: Finanzielle Hilfen für Menschen mit Behinderung, Walhalla, 2021

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