Der Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe wurde formal mit der Herauslösung des Eingliederungsrechts aus dem SGB XII eingeleitet. Bislang orientieren sich Eingliederungshilfeleistungen an der Wohnform (Einrichtung, Betreutes Wohnen, Privathaushalt). Mit dem Bundesteilhabegesetz wird Eingliederungshilfe personenzentriert, am Bedarf des Betroffenen orientierte geleistet. Die Trennung von stationären, teilstationären und ambulanten Leistungen wird damit aufgehoben. Die Basis dafür bildet das novellierte Wunsch- und Wahlrecht in der Eingliederungshilfe.
Trennung der Leistungen
Das Wunsch- und Wahlrecht, das gemäß § 8 SGB IX für alle Rehabilitationsträger gilt, wird mit § 104 SGB IX für das Eingliederungsrecht noch einmal präzisiert. Dort wird das Prinzip der Personenzentrierung der Leistungen, unabhängig von der Wohnform, verankert. Demgemäß werden Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß dem individuellen Bedarf, den persönlichen Verhältnissen, dem Sozialraum und den Kräften und Mitteln der Leistungsberechtigten erbracht (§ 104 Abs. 1 SGB IX). Mit der Personenzentrierung entfällt die Differenzierung nach stationären, teilstationären und ambulanten Leistungen. Die Eingliederungshilfe konzentriert sich künftig auf die reinen Fachleistungen zur Förderung der Teilhabe. Existenzsichernde Leistungen werden von behinderungsbedingten Leistungen der Eingliederungshilfe getrennt. Die Existenzsicherung erfolgt über die Grundsicherung unabhängig von der Wohnform (SGB XII bzw. SGB II, vgl. auch § 93 SGB IX). Sonderregelungen für den Lebensunterhalt in Einrichtungen der Eingliederungshilfe fallen ersatzlos weg, darunter auch das Bekleidungsgeld und der Barbetrag. Hinsichtlich der existenzsichernden Leistungen zum Lebensunterhalt wird eine Gleichstellung mit Menschen ohne Behinderungen angestrebt.
Berechtigt, angemessen, zumutbar
Die Wunsch- und Wahlfreiheit der Leistungsberechtigten ist allerdings nicht unbegrenzt. Während im ersten Absatz des § 104 noch die individuelle Bestimmung der Teilhabeziele und des Leistungsanspruches hervorgehoben werden, wird dies im zweiten Absatz erheblich eingeschränkt. Es wird nun nicht mehr von „berechtigten“ Wünschen wie in § 8 SGB IX gesprochen, sondern von „angemessenen“ Wünschen. Nicht angemessen wären unverhältnismäßigen Mehrkosten.
Bei Auswahl und Ausführung der Leistungen muss gemäß § 8 den berechtigten Wünschen des Betroffenen entsprochen werden. Bei dieser Wertung, was „berechtigt“ ist, muss auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen werden.
Den Wünschen des Berechtigten soll entsprochen werden, soweit die gewünschten Leistungen angemessen sind. (§ 104 Abs. 2 SGB IX).
Das Kriterium der Angemessenheit ist nicht auf Kostengesichtspunkte beschränkt, sondern umfasst auch die Qualität der Leistung und deren Erfolgswahrscheinlichkeit im Hinblick auf die im Gesamtplan festgehaltenen Teilhabeziele. Das Erfordernis der Angemessenheit erfordert eine Bewertung aller oben genannten Tatbestandsmerkmale im Verhältnis zu den geäußerten Wünschen.
Nicht angemessen wären unverhältnismäßigen Mehrkosten. Damit diese messbar sind soll ein Kostenvergleich mit geeigneten und bedarfsdeckenden Leistungsalternativen von Leistungserbringen erfolgen. Eine Leistung ist hiernach allerdings nur dann mit einer anderen vergleichbar, wenn beide neben dem Teilhabeziel auch bezüglich der Leistungsform miteinander übereinstimmen und der individuelle Bedarf durch die im Vergleich betrachteten vereinbarten Leistungen gedeckt werden kann und diese wirklich verfügbar wären.
Dabei stellen die Kosten für vergleichbare Leistungen von Leistungserbringern ihrerseits noch nicht die Angemessenheitsobergrenze dar, sondern erst deren unverhältnismäßige Überschreitung, die gesondert zu prüfen ist. Die Kosten für vergleichbare Leistungen von Leistungserbringern sind noch nicht die Angemessenheitsobergrenze, sondern erst deren unverhältnismäßige Überschreitung, die gesondert zu prüfen ist. Die unverhältnismäßigen Mehrkosten sind ein rechnerisches Prüfkriterium, bei dem die regional verfügbaren Angebote der Leistungserbringer und übliche Kostenschwankungen in den Blick zu nehmen sind. Im Ergebnis des Vergleichs soll den Wünschen der Leistungsberechtigten nur dann entsprochen werden, wenn diese nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Leistungsberechtigte werden in der Regel kaum in der Lage sein, die komplizierten Vergleichsrechnungen nachzuvollziehen, da ihnen die Kalkulationsunterlagen des herangezogenen Vergleichsanbieters nicht vorliegen. Die stehen aber dem Träger der Eingliederungshilfe zur Verfügung, der in dieser Entscheidungskonstellation eindeutig die besseren Karten hat.
Sollte es einen nicht angemessenen Wunsch geben, muss geprüft werden, ob die angebotene Alternative zumutbar ist. Dabei müssen die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände einschließlich der gewünschten Wohnform berücksichtigt werden.
Wünschen nach einem Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen, in denen ausschließlich Menschen mit Behinderungen betreut werden (früher: stationäre Einrichtungen) wird bevorzugt entsprochen werden, wenn beide Wohnformen im Rahmen der Angemessenheits- und Zumutbarkeitsprüfung gleich bewertet werden. Bei der Prüfung der Angemessenheit ist auch die bisherige Leistungsgewährung zu berücksichtigen. Was im geltenden Recht als angemessen angesehen wird, soll auch nach dem neuen Recht angemessen sein.
soziale Beziehungen
Im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und der persönlichen Lebensplanung muss ebenfalls den Wünschen des Betroffenen entsprochen werden, wenn er diese Leistungen nicht mit anderen gemeinsam in Anspruch nehmen will. Die gemeinsame Inanspruchnahme von Leistungen mag zwar die Arbeit des Leistungsträgers erleichtern, sie kann aber nicht allein in sein Ermessen gestellt werden; vielmehr muss der Leistungsberechtigte auf Augenhöhe an der Entscheidung beteiligt werden. Daher muss die gemeinsame Inanspruchnahme von Fachleistungen für die Leistungsberechtigten zumutbar sein.
Entscheidend ist die Umsetzung
Abzuwarten bleibt, ob es in der Praxis gelingt, Wunsch- und Wahlrecht, Angemessenheit und Zumutbarkeit für alle zufriedenstellend unter einen Hut zu bringen.
Entscheidend ist der Umgang der Träger der Eingliederungshilfe und der Leistungserbringer im Alltag mit diesen Grundsätzen. Was wird im Einzelnen für zumutbar und angemessen gehalten? Gibt es dabei regionale Unterschiede?
Quellen: Deutscher Bundestag: „Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 bis 4 des Bundesteilhabegesetzes“, SOLEX
Artikelserie BTHG-Umsetzung auf FOKUS Sozialrecht:
- Bundesteilhabegesetz (Teil 1) – Umsetzung in den Ländern
- Bundesteilhabegesetz (Teil 2) – Wunsch- und Wahlrecht
- Bundesteilhabegesetz (Teil 3) – Einkommensanrechnung
- Bundesteilhabegesetz (Teil 4) – Vermögensanrechnung
- Bundesteilhabegesetz (Teil 5) – Vergleich der Anrechnungen
- Bundesteilhabegesetz (Teil 6) – Allgemeine Vorschriften
- Bundesteilhabegesetz (Teil 7) – Beratung und Unterstützung
- Bundesteilhabegesetz (Teil 8) – Rechtsanspruch
- Bundesteilhabegesetz (Teil 9) – Personenkreis
- Bundesteilhabegesetz (Teil 10) – Soziale Teilhabe
- Bundesteilhabegesetz (Teil 11) – Medizinische Rehabilitation
- Bundesteilhabegesetz (Teil 12) – Ausländer, Deutsche im Ausland
- Bundesteihabegesetz (Teil 13) – Trennung der Leistungen (1)
- Bundesteihabegesetz (Teil 14) – Trennung der Leistungen (2)
- Bundesteilhabegesetz (Teil 15) – Teilhabe am Arbeitsleben
- Bundesteilhabegesetz (Teil 16) – Teilhabe an Bildung
- Bundesteilhabegesetz (Teil 17) – Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung
- Bundesteilhabegesetz (Teil 18) – Teihabeplan und Gesamtplan
- Bundesteilhabegesetz (Teil 19) – Gesamtplanung
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