Bundesteihabegesetz (BTHG) – Kosten der Unterkunft ab 2020

Kosten der Unterkunft in Einrichtungen der Eingliederungshilfe

Ab dem 1. Januar 2020 werden die Fachleistungen der Eingliederungshilfe und die Leistungen für den Lebensunterhalt, inclusive der Kosten für die Unterkunft – auch in stationären Einrichtungen, getrennt behandelt und finanziert. Dies sieht das Bundesteilhabegesetz vor, das dann mit seiner nächsten Stufe in Kraft tritt.
Nach dem derzeit geltenden Recht erhalten Leistungsberechtigte in stationären Einrichtungen eine Gesamtleistung. Durch diese Gesamtleistung werden alle Leistungen der Eingliederungshilfe und des notwendigen Lebensunterhalts nach dem SGB XII erbracht und finanziert. Dabei erfolgte im Hintergrund eine teilweise Refinanzierung der Leistungen durch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Hierfür wird von der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eine Pauschale gezahlt, deren Höhe jedoch in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Höhe der in der stationären Einrichtung tatsächlich erbrachten Lebensunterhaltsleistungen steht.

Empfehlungen des BMAS

Ab 2020 werden die Bedarfe für den Lebensunterhalt aus der bisherigen Gesamtleistung herausgelöst, damit werden die Kosten der Unterkunft (KdU) von den Leistungen der Eingliederungshilfe in Einrichtungen getrennt. Welche Kosten der Unterkunft damit genau gemeint sind, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 05.07.2018 „Empfehlungen für die personenzentrierte Leistungserbringung in bisherigen stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe“ beschrieben. Denn in solchen Einrichtungen sind ja nicht nur die persönlichen Wohnräume, sondern auch Gemeinschaftsräume, Therapieräume, Räume für das Personal und einiges mehr zu finanzieren. Das BMAS empfiehlt den Einrichtungen eine Aufteilung in Wohnflächen, Fachleistungsflächen und Mischflächen.

Danach sind Wohnflächen persönlich genutzte Räumlichkeiten und Gemeinschaftsräumlichkeiten:

  • Schlafzimmer,
  • frei benutzbare Küchen (ggf. mit Speisekammer/Vorratsraum),
  • Wohnzimmer,
  • normale Bäder,
  • sowie diese Räume verbindende Flure.

Fachleistungsflächen sind Räumlichkeiten, die über den Wohnraum hinaus für die Erbringung der unterschiedlichen Leistungen der Eingliederungshilfe erforderlich sind oder sein können:

  • Therapieräume,
  • Hobbyräume,
  • Veranstaltungsräume,
  • Pflege-/ Bewegungsbäder,
  • Räume für Personal einschließlich Assistenzkräfte (z.B. Einrichtungsleitung, Nachtbereitschaft).

Mischflächen sind nicht eindeutig zuzuordnenden Flächen:

  • Eingangsbereiche,
  • Treppenhäuser und Flure, die sowohl als Zugang zu Fachräumen als auch zu Wohnräumen benutzt werden müssen,
  • Vorratsräume/Hauswirtschaftsräume für Putzutensilien für das gesamte Haus,
  • Energieversorgungsräume.

Finanzierung

Finanzierung der Wohnflächen
Die kalkulatorische Miete für Wohnflächen wird nach § 42a Abs. 5 SGB XII als Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (Warmmiete) berücksichtigt. Das Abstellen auf die durchschnittliche Warmmiete hat zur Folge, dass eine ausschließlich betragsmäßige Betrachtung für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung erfolgt. Eine zusätzliche Angemessenheitsprüfung für die Anerkennung der Bedarfe nach § 42a Abs. 5 SGB XII, beispielsweise auf der Grundlage der einer leistungsberechtigten Person zugeordneten Wohnfläche (Fläche in Quadratmetern) findet im Unterschied zu Wohnungen nicht statt.

Der sich ergebende Euro-Betrag kann jedoch nach Satz 4 im § 42a Abs. 5 SGB XII um bis zu 25 Prozent überschritten werden (das heißt: die durchschnittliche Warmmiete entspricht 100 Prozent, Erhöhung um 25 Prozent ergibt Kappungsgrenze bei 125 Prozent der durchschnittlichen Warmmiete für die im Rahmen der Lebensunterhaltsleistungen anzuerkennenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung). Die Übernahme der diesen Betrag übersteigenden Kosten der Unterkunft um bis zu 25 % wurde durch nachträgliche Änderung („Reparatur-Gesetz“) von einer Ermessensleistung (vorherige Formulierung „können anerkannt werden, wenn“) zu einer Mussleistung („sind anzuerkennen, wenn“) Die leistungsberechtigte Person muss aber durch den Vertrag nachweisen, dass der sich daraus ergebende monatlich geschuldete Betrag über die Warmmiete hinaus weitere und gesondert im Vertrag ausgewiesene zusätzliche Kosten umfasst für:

  1. Zuschläge für persönlich genutzte Räumlichkeiten, die vollständig oder teilweise möbliert zur Nutzung überlassen werden („Möblierungszuschlag“),
  2. Wohn- und Wohnnebenkosten und diese Kosten im Verhältnis zu vergleichbaren Wohnformen angemessen sind,
  3. Haushaltsstrom, Instandhaltung von persönlichen Räumlichkeiten und den Räumlichkeiten zur gemeinschaftlichen Nutzung sowie der Ausstattung mit Haushaltsgroßgeräten oder
  4. Gebühren für Telekommunikation sowie für den Zugang zu Rundfunk, Fernsehen und Internet.

Die zusätzlichen Aufwendungen nach den Nummern 2 bis 4 werden nach der Anzahl der in einer baulichen Einheit lebenden Personen zu gleichen Teilen aufgeteilt.

Dies bedeutet, dass Aufwendungen von mehr als 100 Prozent der durchschnittlichen Warmmiete eines Einpersonenhaushalts dann als Bedarfe für Unterkunft und Heizung bis zur Höhe von 125 Prozent anzuerkannt werden, wenn mindestens eine der in den Nummer 1 bis 4 enthaltenen Voraussetzungen durch den Vertrag nachgewiesen wird.

Daraus folgt: Wenn sich die Miete auf mindestens 100 Prozent der durchschnittlichen Warmmiete beläuft und sich damit aus der Summe von tatsächlicher Warmmiete und nachgewiesenen zusätzlichen Kosten nach den Nummern 1 bis 4 eine vertragliche monatliche Zahlungsverpflichtung von mehr als 100 Prozent ergibt, werden sie bis zu 125 Prozent als Bedarf anerkannt.

Finanzierung der Fachleistungsflächen
Die Kostenübernahme für die Fachleistungsflächen ist mit dem Träger der Eingliederungshilfe vertraglich zu vereinbaren. Dabei ist das Vertragsrecht nach dem 8. Kapitel des Eingliederungshilferechts (Teil 2) des SGB IX in der Fassung ab 2020 zuständig.

Finanzierung der Mischflächen
Die Kostenzuordnung für Mischflächen erfolgt gemäß der ermittelten oder vertraglich vereinbarten quotalen Aufteilung zwischen Wohn- und Fachleistungsflächen. Diese werden also nicht gesondert abgerechnet, sondern sind Bestandteil der kalkulatorischen Miete je Quadratmeter für die Wohn- und Fachleistungsflächen.

Überschreiten der Angemessenheitsgrenze um mehr als 125 Prozent
Übersteigen die tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnflächen auch die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 Prozent, können diese
Mehrkosten auch über die Fachleistungen nach dem ab 2020 geltenden Eingliederungsrecht des SGB IX abgerechnet werden.

Dies setzt allerdings voraus, dass dem Leistungsberechtigten eine entsprechende Leistung nach den im Eingliederungshilferecht dargelegten Regelungen bewilligt wurde und eine schriftliche Vereinbarung des Trägers der Eingliederungshilfe mit dem Leistungserbringer über die entsprechenden Leistungen geschlossen wurde. Die Entscheidung über die Bewilligung im Einzelfall obliegt dem Eingliederungshilfeträger.

Die Bewilligung setzt voraus, dass der Leistungsberechtigte einen Anspruch auf diese Leistung hat. Es gibt im SGB IX (noch?) keine ausdrückliche Anspruchsnorm für Wohnkosten, welche die 125%-Angemessenheitsgrenze nach § 42a Abs. 5 SGB XII übersteigen. In der Regel wird es sich hierbei um unbenannte Leistungen zur Sozialen Teilhabe nach dem Kapitel 6 SGB IX handeln. Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen (§ 113 Abs.1 SGB IX). Ob die Wohnkosten über 125 Prozent als eine (unbenannte) Leistung zur sozialen Teilhabe vom Eingliederungshilfeträger bewilligt werden, bestimmt sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfes, den persönlichen Verhältnissen, dem Sozialraum und den eigenen Kräften und Mitteln; dabei ist auch die vom Leistungsberechtigten gewünschte Wohnform zu würdigen (§ 104 SGB IX).

In diesem Zusammenhang kommt der für die Eingliederungshilfe vorgesehenen Gesamtplanung eine Schlüsselfunktion zu. Im Rahmen des Gesamtplanverfahrens ist unter Beteiligung des Leistungsberechtigten und möglicher Hinzuziehung des Leistungserbringers als Beteiligter nach § 12 SGB X zu klären, ob und wenn ja, in welchem Umfang und für welche Dauer der Träger der Eingliederungshilfe den 125 Prozent überschreitenden Anteil der kalkulatorischen Miete übernimmt. Dabei ist auch das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten zu berücksichtigen. Der Träger der Lebensunterhaltsleistungen wird am Gesamtplanverfahren beteiligt.

Bewertung der Lebenshilfe

Der Rechtsdienst der Lebenshilfe hält als Fazit fest:
„Haben doch Kritiker befürchtet, die Trennung der Leistungen könnte dazu führen, dass künftig „Einrichtungen“ der Eingliederungshilfe in finanzielle Notlagen geraten könnten, so wird mit den Empfehlungen deutlich, dass mit den Neuregelungen die Leistungsberechtigten auch künftig in die Lage versetzt werden, die umfassenden Leistungen in „Einrichtungen“ der Behindertenhilfe zu finanzieren.“

Quellen: Rechtsdienst der Lebenshilfe, Bundesanzeiger

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Betreuerbestellung trotz Vorsorgevollmacht?

In zwei aktuellen Beschlüssen im August hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zum Verhältnis von Betreuerbestellung und Vorsorgevollmacht bekräftigt:

Grundsätzlich gilt: Ein Betreuer darf nur bestellt werden, soweit die Betreuerbestellung erforderlich ist (§ 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB). An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB).

Eine Vorsorgevollmacht steht nach diesem Grundsatz der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich entgegen. Dies gilt auch dann, wenn die Unwirksamkeit einer Vorsorgevollmacht nicht positiv festgestellt werden kann. Auch in diesem Fall ist von einer wirksamen Bevollmächtigung auszugehen.

Der Bundesgerichtshof hat definiert, wann eine Unwirksamkeit vorliegen kann:

Bleiben Bedenken an der Wirksamkeit der Vollmachterteilung oder am Fortbestand der Vollmacht, kommt es darauf an, ob dadurch die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr eingeschränkt ist, entweder weil Dritte die Vollmacht unter Berufung auf diese Bedenken zurückgewiesen haben oder weil entsprechendes konkret zu besorgen ist (Senatsbeschluss vom 3. Februar 2016 – XII ZB 425/14).

Trotz Vorsorgevollmacht kann eine Betreuung zudem dann erforderlich sein, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen zu besorgen, insbesondere weil zu befürchten ist, dass die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen durch jenen eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen begründet. Letzteres ist der Fall, wenn erhebliche Bedenken an der Geeignetheit oder Redlichkeit des Bevollmächtigten bestehen (Senatsbeschluss vom 17. Februar 2016 – XII ZB 498/15).

Siehe auch:
>> BGH, Beschluss vom 15.08.2018 (Az. XII ZB 10/18)
>> BGH, Beschluss vom 08.08.2018 (Az. XII ZB 139/18)

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BTHG-Evaluation: Neuer leistungsberechtigter Personenkreis der Eingliederungshilfe

Der Abschlussbericht zu den rechtlichen Wirkungen im Fall der Umsetzung von Artikel 25a § 99 des Bundesteilhabegesetzes (ab 2023) auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe liegt vor. Er wurde als Unterrichtung durch den Bundestag veröffentlicht (Drucksache 19/4500).

Hintergrund der Untersuchung

Die mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) erfolgte Reform der Eingliederungshilfe (grundsätzlich zum 1.1.2020) soll auch eine Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises umfassen.

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes war aber heillos umstritten, wie diese neue Legaldefinition aussehen soll.

Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung setzte die Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis voraus, dass in mindestens 5 von 9 Lebensbereichen die Ausführung von Aktivitäten nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich ist oder die Ausführung von Aktivitäten auch mit personaler oder technische Unterstützung in mindestens 3 dieser Lebensbereiche nicht möglich ist. Als Lebensbereiche wurden festgelegt:
(1) Lernen und Wissensanwendung,
(2) Allgemeine Aufgaben und Anforderungen,
(3) Kommunikation,
(4) Mobilität,
(5) Selbstversorgung,
(6) Häusliches Leben,
(7) Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,
(8) Bedeutende Lebensbereiche und
(9) Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerschaftliches Leben.

Während der Beratungen kam es diesbezüglich zu heftigen Auseinandersetzungen, so dass beschlossen wurde, hier zunächst eine Evaluierung und modellhafte Erprobung durchzuführen, die bis zum 31.12.2022 abgeschlossen sein soll; ab 01.01.2023 soll dann – als 4. Reformstufe des BTHG – eine neue Definition des leistungsberechtigten Personenkreises eingeführt werden.

Bis dahin erhalten Personen, die die Kriterien der derzeitigen Regelungen (§ 53 Abs. 1 und Abs. 2, §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung) erfüllen, Leistungen der Eingliederungshilfe.

Evaluierung abgeschlossen

Wie vom Gesetzgeber gefordert und in Art. 25 Abs. 5 BTHG niedergelegt, fand die Untersuchung in den Jahren 2017 und 2018 statt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat die Arbeitsgemeinschaft ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH sowie transfer – Unternehmen für soziale Innovation mit den Unterauftragnehmern Universität Kassel (Prof. Dr. Felix Welti) und Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann mit dem Forschungsvorhaben „Rechtliche Wirkungen im Fall der Umsetzung von Artikel 25a § 99 BTHG (ab 2023) auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe“ beauftragt.

Als Forschungsfragen wurden festgelegt:

(1) Wie lassen sich die in § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB IX i. d. F. von Art. 25a BTHG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe „in einer größeren Anzahl der Lebensbereiche“ und „in einer geringeren Anzahl der Lebensbereiche“
konkretisieren? Insbesondere soll geklärt werden, in welchen und in wie vielen Lebensbereichen nach der ICF nach § 99 Abs. 4 SGB IX i. d. F. von Art. 25a BTHG die Ausführung von Aktivitäten nur mit personeller oder technischer Unterstützung möglich und in wie vielen Fällen sie auch mit personeller
oder technischer Unterstützung nicht möglich ist. Es ist zu prüfen, bei welcher Konkretisierung der Anzahl der Lebensbereiche sich keine Veränderungen beim Personenkreis gegenüber der derzeit geltenden Rechtslage ergeben.

(2) In welchem Verhältnis steht die Anzahl der Lebensbereiche mit Unterstützungsbedarf zu dem Ausmaß der jeweiligen Einschränkungen? Diese Frage bezieht sich auf Art. 25 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BTHG in Verbindung
mit § 99 Abs. 1 Satz 3 SGB IX i. d. F. von Art. 25a BTHG, wonach mit zunehmender Anzahl der Lebensbereiche ein geringeres Maß der jeweiligen Einschränkung ausreichend ist, um zum leistungsberechtigten Personenkreis zu gehören. Das genannte Verhältnis von Anzahl der Lebensbereiche und Ausmaß der jeweiligen Einschränkungen ist zu konkretisieren.

(3) Welche Kriterien sind im Rahmen einer typisierenden Betrachtung der notwendigen personellen und technischen Unterstützungserfordernisse als spezifisch für die jeweiligen Arten der Behinderung anzusehen? Dies soll beantwortet werden, indem für einzelne Arten der Behinderung jeweils typische Unterstützungsbedarfe in bestimmten Lebensbereichen aufgezeigt werden.

(4) Welche Auswirkungen hat die in § 99 Abs. 1 SGB IX i. d. F. von Art. 25a BTHG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 SGB IX aufgenommene Erweiterung der Definition von Behinderung um die Formulierung „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ auf den leistungsberechtigten Personenkreis?

(5) Welchen Stellenwert hat die ICF-Komponente „Körperfunktionen und -strukturen“ für die Definition? Es ist zu überprüfen, ob die Erweiterung der Bezugnahme auf die körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigung
einer Person um diese Bezugnahme auf die in der ICF benannten Störungsursachen zu einer Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises führen würde.

(6) Werden die zu Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben berechtigten Personen durch die Regelung von § 99 Abs. 6 SGB IX i. d. F. von Art. 25a BTHG erfasst? Dies betrifft Menschen, die wegen der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder erwerbsfähig im sozialversicherungsrechtlichen Sinne sind, gleichwohl aber in der Lage sind, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen (§ 58 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Weiterhin ist zu untersuchen, ob es
durch diese Regelung zu Veränderungen des leistungsberechtigten Personenkreises kommt.

Die Ergebnisse liegen mit diesem Forschungsbericht nun vor und können in der Unterrichtung (Drucksache 19/4500) nachgelesen werden. Der Forschungsbericht

  • erläutert den Hintergrund des Forschungsvorhabens (Abschnitt 2),
  • berichtet über den Projektauftrag, die methodische Umsetzung und den Projektverlauf (Abschnitt 3),
  • präsentiert die Ergebnisse der Aktenanalyse (Abschnitt 4),
  • stellt die Ergebnisse der eigenen Interviews (Abschnitt 5) sowie ausgewählte Ergebnisse aus den Workshops zur Rechtsauslegung und -anwendung dar,
  • beantwortet die Untersuchungsergebnisse zu den Forschungsfragen,
  • stellt konzeptionelle Überlegungen zu Intention und Anwendungskontext der ICF vor (Abschnitt 8),
  • fasst die Untersuchungsergebnisse zusammen und kommentiert diese im Hinblick auf die zu beantwortenden Forschungsfragen (Abschnitt 9).

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Streit um Grundsicherung

Menschen, die mindestens 18 Jahre alt und im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt waren, hatten einen Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung, zumindest bis zum 30.6.2017.
Am 1.7.2017 wurde im Rahmen des „Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“ der Punkt 3 in den § 45 SGB XII eingefügt. Danach erfolgt eine Prüfung über die volle Erwerbsminderung nicht, wenn „…Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind…“

Die Auffassung der Sozialhilfeträger ist seitdem: da die Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung erst nach Beendigung des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden könne, erfolge für Menschen mit Behinderung im Eingangs- und Berufsbildungs- und Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) kein Ersuchen an einen Rentenversicherungsträger auf gutachterliche Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung.

Das bedeutet, dass Menschen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen seitdem unter Umständen nur mit dem Werkstatt-Entgelt auskommen müssen, in den meisten Fällen weniger als 100 Euro im Monat.

Nun hat das Sozialgericht Detmold entschieden, dass die Rechtsauffassung der Sozialhilfeträger nicht haltbar ist (Urteil vom 14. August 2018, Aktenzeichen: S 2 SO 15/18).
Die Auslegung des Sozialhilfeträgers, im Falle des § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII bestehe eine Situation, in der eine volle Erwerbsminderung nicht festgestellt werden könne, da die Sozialbehörde nicht selbst prüfen und auch kein Ersuchen an den Rententräger richten dürfe, aber gar nicht feststehe, ob dauerhaft volle Erwerbsminderung vorliege, geht zur Überzeugung des Gerichts fehl. Nähme man den reinen Wortlaut des § 45 Satz 3 SGB XII, so würde lediglich das Ersuchen entbehrlich. Dann müsste aber die Sozialbehörde selbst die volle Erwerbsminderung auf Dauer prüfen, da dann lediglich die Zuständigkeitsverschiebung aufgehoben worden wäre.

Bei systematischer Auslegung ist jedoch deutlich zu erkennen, dass der Gesetzgeber in den genannten Fällen keine weitere Prüfung mehr wünscht, sondern die volle Erwerbsminderung auf Dauer unterstellt.

So wird vom Gesetzgeber bei der Nr. 3 genauso wie bei den Nr. 1 und 2 und 4 des § 45 S. 3 SGB XII die volle Erwerbsminderung unterstellt. Denn bei einem schwerbehinderten Menschen, der in den Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen aufgenommen worden ist, ist bereits davon auszugehen, dass dieser dauerhaft voll erwerbsgemindert ist. Die Werkstatt für behinderte Menschen ist ein geschützter Bereich für die behinderten Menschen, der nicht zum allgemeinen Arbeitsmarkt gehört.

Ähnlich äußerten sich zuvor schon das Sozialgericht Augsburg, das Sozialgericht Gießen und das Landessozialgericht Hessen.

Die Lebenshilfe schreibt dazu: „Die Rechtsauffassung des BMAS, der sich die Sozialämter anschließen, halten die Bundesvereinigung Lebenshilfe und andere Fachverbände für falsch. Wir gehen davon aus, dass die dauerhafte und volle Erwerbsminderung bei Menschen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich von Werkstätten vorliegt. Sie muss nicht erst durch eine Begutachtung festgestellt werden.“

Es sollte diesbezüglich bald eine gesetzliche Klarstellung erfolgen.

Quelle: Lebenshilfe

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Bundesrat mit Mammut-Programm

Am 21.9.2018 tagt der Bundesrat zum ersten Mal nach der Sommerpause. Auf der Tagesordnung stehen über 100 Punkte, darunter das Haushaltsgesetz für 2019 und einige in der letzten Zeit bekannt gewordene Regierungsentwürfe aus dem Bereich der Sozialgesetzgebung.
(Die Links verweisen einerseits auf die Gesetzesentwürfe und gegebenenfalls auf Stellungnahmen der Ausschüsse, andererseits auf die Artikel, die zu diesem Thema hier erschienen sind.)

Teilhabechancengesetz

Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Schaffung neuer Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt (Teilhabechancengesetz – 10. SGB II-ÄndG):

Die Bundesregierung plant Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, die Langzeitarbeitslose sozialversichert beschäftigen. Es sollen Menschen gefördert werden, die sieben Jahre ohne Arbeit auf Hartz IV angewiesen und mindestens 25 Jahre alt sind. Auch für Personen, die erst seit zwei Jahren arbeitslos sind, soll es Lohnkostenzuschüsse geben.
Der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik kritisiert den Entwurf in mehreren Punkten. So hält er es für verfehlt, das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ erst nach sieben Jahren Arbeitslosigkeit greifen zu lassen.

Familienentlastungsgesetz

Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Entlastung der Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen (Familienentlastungsgesetz – FamEntlastG):

Das Kindergeld soll ab Juli 2019 um zehn Euro pro Kind und Monat angehoben werden. Für das erste und zweite Kind beträgt es dann 204 Euro, für das dritte 210 und für das vierte und jedes weitere Kind 235 Euro monatlich. Auch der steuerliche Kinderfreibetrag wird angepasst, er steigt 2019 und 2020 um jeweils 192 Euro. Außerdem ist eine Erhöhung des Grundfreibetrags geplant. Von derzeit 9000 Euro jährlich soll dieser im nächsten Jahr auf 9168 Euro steigen, 2020 dann auf 9408 Euro.
Zu der geplanten Maßnahme zum Ausgleich der kalten Progression merkt der Finanzausschuss an, dass die geplante Maßnahme höhere und höchste Einkommen unangemessen entlaste.

GKV-Versichertenentlastungsgesetz

Entwurf eines Gesetzes zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versichertenentlastungsgesetz – GKV-VEG):

Die Bundesregierung plant eine Entlastung für die gesetzlich Krankenversicherten im kommenden Jahr. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen den Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder je zur Hälfte zahlen. Von den Neuregelungen profitieren sollen auch Selbständige mit geringen Einnahmen, die freiwillig Mitglied in einer gesetzlichen Krankenkasse sind. Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass Krankenkassen mit einem besonders großen Finanzpolster Reserven abbauen müssen.
Der Gesundheitsausschuss empfiehlt dem Plenum, zu dem Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Darin spricht er sich unter anderem dafür aus, dass die Finanzreserven der Krankenkassen nicht in dem Maße wie von der Bundesregierung vorgeschlagen abgebaut werden sollten.

Pflegepersonal-Stärkungsgesetz

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Pflegepersonals (Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – PpSG):

Die Bundesregierung hat ein Sofortprogramm Pflege aufgelegt, um die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor zu verbessern. Der Kern sind rund 13.000 zusätzliche Stellen für stationäre Pflegeeinrichtungen. Bezahlen sollen sie die Krankenkassen. Zur Verbesserung der Pflegesituation in den Krankenhäusern wird dort künftig jede zusätzliche Pflegestelle vollständig refinanziert. Darüber hinaus sieht das Sofortprogramm ab 2020 erstmals Untergrenzen für den Einsatz von Pflegepersonal in Krankenhäuern vor.
Der Gesundheitsausschuss empfiehlt dazu eine umfassende Stellungnahme, insbesondere bei der Versorgung mit Hebammen, bei Maßnahmen gegen Antibiotikaresistenzen und bei der Schlaganfalllversorgung. Außerdem sollten die Maßnahmen zur besseren Vereinbarung von Beruf und Familie aus Steuermitteln und nicht über die Pflegeversicherung finanziert werden.

Änderung des Asylgesetzes

Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylgesetzes:

Mit dem beabsichtigten Gesetz soll neben der bereits bestehenden Mitwirkungspflicht für Asylbewerber im Asylantragsverfahren eine Mitwirkungspflicht des Schutzberechtigten in Widerrufs- und Rücknahmeverfahren gesetzlich vorgeschrieben werden. Der Gesetzesentwurf rief schon heftige Kritik hervor.

Insolvenzgeldumlage

Verordnung zur Festsetzung des Umlagesatzes für das Insolvenzgeld für das Kalenderjahr 2019 (Insolvenzgeldumlagesatzverordnung 2019 – InsoGeldFestV 2019):

Die Insolvenzgeldumlage finanziert den Anspruch der Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Insolvenzgeld und wird von den Arbeitgebern getragen. Der aktuelle Überschuss aus der Umlage und die positive konjunkturelle Lage ermöglichen eine Beibehaltung des Umlagesatzes im Jahr 2019 in Höhe von 0,06 Prozent des Arbeitsentgelts.

Einkommensgrenze für Minijobs

Entwurf eines Gesetzes zur Dynamisierung der Einkommensgrenze für Minijobs und für Verbesserungen für Arbeitnehmer in der Gleitzone:

Das Land Nordrhein-Westfalen möchte die Einkommensgrenze der Minijobs an den gesetzlichen Mindestlohn koppeln. Die bislang starre Entgeltgrenze von 450 Euro soll künftig das 53fache des gesetzlichen Mindestlohns betragen.

Quelle: Bundesrat Tagesordnung – 970. Sitzung des Bundesrates

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Gesetzgeberischer Handlungsbedarf bei der Kontrolle der Betreuungsführung?

In seiner nicht öffentlichen Sitzung am 12. September 2018 hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig beschlossen, eine Petition zum Thema Betreuungsrecht dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz als Material zu überweisen und den Fraktionen zur Kenntnis zu geben „soweit die Kontrolle der Betreuungsführung angesprochen wird“.

Der Petitionsausschuss unterstützt dabei in seinem Beschluss Forschungsvorhaben, auf deren Grundlage geprüft werden kann, ob bei der Kontrolle der Betreuungsführung gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Im Rahmen des Forschungsvorhabens werden laut der Vorlage auch die verschiedenen Instrumente zur Ausübung der Aufsicht und Kontrolle durch die Betreuungsgerichte untersucht.

Bei anderen in der Petition aufgeführten Punkten sah der Ausschuss hingegen keinen Handlungsbedarf. Dazu gehört

  • die Abschaffung der pauschalierten Abrechnung von Betreuungsarbeit,
  • die Bestellung eines Ersatzbetreuers bei Abwesenheit des amtlich bestellten Vertreters,
  • die Begrenzung der Zahl der Betreuten bei Betreuungsvereinen sowie
  • die Kontrolle der Betreuungsvereine durch externe Revision.

In der Begründung zu seiner Beschlussempfehlung schreibt der Petitionsausschuss, die Vergütungspauschalierung diene dem Abbau von Zeit- und Personalaufwand und solle auch den Betreuten zugutekommen. Dabei werde durch ein aktuelles Forschungsvorhaben das bestehende Vergütungssystem überprüft und gegebenenfalls die Möglichkeit alternativer Systeme untersucht. Ein darüber hinausgehender Handlungsbedarf sieht der Petitionsausschusses derzeit als nicht gegeben an.

Eine generelle Pflicht zur Bestellung eines Ersatzvertreters ist nach Ansicht des Ausschusses nicht angezeigt. Schon jetzt hätten Betreuungsgerichte die Möglichkeit, im Einzelfall einen Ersatzvertreter zu bestellen.

Weiter heißt es in der Beschlussempfehlung, eine generelle zahlenmäßige Begrenzung der von einem Betreuer geführten Betreuungen sei derzeit nicht vorgesehen, da die Zahl der ohne Qualitätseinbuße leistbaren Betreuungen sehr vom Einzelfall abhänge. Berufsbetreuer mit Mitarbeitern könnten nach Ansicht der Abgeordneten generell mehr Betreuungen leisten als Berufsbetreuer ohne Mitarbeiter, da sie beispielsweise Buchhaltungsaufgaben an Mitarbeiter übertragen könnten.

Der Petitionsausschuss verweist zugleich auf das Forschungsvorhaben „Qualität der rechtlichen Betreuung“, welches empirische Erkenntnisse unter anderem darüber liefern soll, ob und gegebenenfalls welche strukturellen Qualitätsdefizite in der beruflichen Betreuung vorliegen und auf welche Ursachen diese zurückgeführt werden könnten. Es werde dabei auch untersucht, ob Berufsbetreuern die notwendige Zeit für die einzelne Betreuung zur Verfügung steht und mit welchen Maßnahmen verhindert werden kann, „das Berufsbetreuern in einem solchen Umfang Betreuungen übertragen werden, dass sie die Anforderungen an eine qualitätsvolle Betreuung, welche das Selbstbestimmungsrecht des Betreuten in den Mittelpunkt stellt, nicht mehr erfüllen können“.

Quelle: Heute im Bundestag, Nr. 656

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Unterbringungssachen: Aktuelle Rechtsprechung des BGH im Jahr 2018 – Update

Beschlüsse und Urteile des 12. Senates des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 2018 zu Unterbringungssachen.

Update: Entscheidungen vom 15. August 2018 eingefügt.

Über die Verlinkung gelangen Sie zum Volltext der Entscheidung. Unterbringungssachen: Aktuelle Rechtsprechung des BGH im Jahr 2018 – Update weiterlesen

Schwerer ärztlicher Behandlungsfehler bei Nichtinformation durch den Hausarzt

„Der Arzt hat sicherzustellen, dass der Patient von Arztbriefen mit bedrohlichen Befunden – und gegebenenfalls von der angeratenen Behandlung – Kenntnis erhält, auch wenn diese nach einem etwaigen Ende des Behandlungsvertrags bei ihm eingehen. Der Arzt, der als einziger eine solche Information bekommt, muss den Informationsfluss aufrechterhalten, wenn sich aus der Information selbst nicht ein deutig ergibt, dass der Patient oder der diesen weiterbehandelnde Arzt sie ebenfalls erhalten hat.“ – so der Leitsatz des Bundesgerichtshofes (BGH) in seinem Urteil vom 26.06.2018 (Az. VI ZR 285/17), dessen Begründung Ende August veröffentlicht wurde.

Und das Gericht weiter: Es sei ein schwerer ärztlicher Behandlungsfehler, wenn der Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu umgehenden und umfassenden ärztlichen Maßnahmen gebe, nicht und oder nicht rechtzeitig informiert und ihm die erforderliche ärztliche Beratung versagt werde.

Der zugrunde liegende Sachverhalt:

Eine Hausärztin überwies einen Patienten wegen Schmerzen im Bein an einen Facharzt. In einer Klinik wurde ein bösartiges Geschwulst in der Kniekehle entdeckt. Dies teilte die Klinik allerdings nur der Hausärztin, aber nicht dem behandelnden Facharzt und auch nicht dem betroffenen Patienten mit. Erst nach mehr als einem Jahr, als der Patient die Hausärztin wegen einer anderen Erkrankung erneut aufsuchte, wurde er informiert. Erst danach wurde die klinische Behandlung fortgesetzt.

Der Patient forderte von seiner langjährigen Hausärztin Schmerzensgeld und Schadenersatz. Da die Richter des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG) es für nachvollziehbar erachteten, dass die Ärztin, die zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr in die Behandlung eingebunden war, nichts unternommen habe, wiesen sie die Klage ab.

Zu Unrecht, wie der BGH nun feststellte:

Hausärzte können aus einem Arztbrief, der nur an sie geht, unschwer erkennen, dass eine Klinik sie irrtümlicherweise für die behandelnde Praxis halte. Gerade in ihrer koordinierenden Funktion als Hausärzte müssten sie eine solche Information weitergeben.

„Der Arzt hat sicherzustellen, dass der Patient von Arztbriefen mit bedrohlichen Befunden – und gegebenenfalls von der angeratenen Behandlung – Kenntnis erhält, auch wenn diese nach einem etwaigen Ende des Behandlungsvertrags bei ihm eingehen“ – so der BGH in seiner Begründung.

Und weiter: Der Arzt, der als einziger eine solche Information bekommt, muss den Informationsfluss aufrechterhalten, wenn sich aus der Information selbst nicht eindeutig ergibt, dass der Patient oder der diesen weiterbehandelnde Arzt sie ebenfalls erhalten hat. Es sei ein schwerer ärztlicher Behandlungsfehler, wenn der Patient über einen bedrohlichen Befund, der Anlass zu umgehenden und umfassenden ärztlichen Maßnahmen gebe, nicht und oder nicht rechtzeitig informiert und ihm die erforderliche ärztliche Beratung versagt werde.

Das Verfahren wurde deshalb an das OLG zur erneuten Entscheidung zurück verwiesen.

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Betreuer muss Bestattungskosten des verstorbenen Betreuten nach Kostenübernahmeerklärung tragen

Ein Betreuer, der für den verstorbenen Betreuten einen Bestattungsauftrag samt Kostenübernahmeerklärung unterschreibt, muss die Bestattungskosten tragen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) mit unanfechtbaren Beschluss vom 17. April 2018 entschieden (Az. 1 S 419/18).

Der Sachverhalt

Der Antragsteller war Betreuer seiner im November 2016 verstorbenen Tante. Am Tag nach dem Tod unterzeichnete er bei einem Bestattungsunternehmen einen an die Stadt (Antragsgegnerin) gerichteten Antrag für eine Grabstätte auf einem Friedhof der Antragsgegnerin. Im Antragsformular trug er seinen Namen und seine Adresse ein. Hinter seinem Namen trug er ein: „(Betreuer)“. Bei den beantragten Leistungen kreuzte er an: „Verlängerung eines Nutzungsrechts am Wahlgrab auf die Dauer von 15 Jahren.“

Am selben Tage unterzeichnete der Antragsteller beim Bestattungsunternehmen auf einem Formular der Antragsgegnerin eine „Gebühren- und Kostenübernahmeerklärung im Sinne der Friedhofsgebührensatzung“ der Antragsgegnerin. In dem Formular heißt es u.a.: „Erdbestattung der oder des Verstorbenen X. wird von mir bestellt. Für die Bezahlung der anfallenden Gebühren und Kosten übernehme ich als Besteller(in) die Haftung als Selbstschuldner(in).“ In dem Feld darunter trug der Antragsteller seinen Namen und seine Anschrift ein.

Die Antragsgegnerin stellte dem Antragsteller durch Bescheid die Bestattungsgebühren in Rechnung. Hierauf erwiderte dieser, nach anwaltlicher Beratung habe er erfahren, dass er als Neffe nicht zu dem öffentlich-rechtlichen Personenkreis gehöre, der für eine Bestattung leisten müsse. Die bei der Terminabstimmung im Bestattungshaus unterschriebene selbstschuldnerische Bürgschaft erkläre er für nichtig.

Beim Verwaltungsgericht stellte der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Diesen lehnte das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Gebühren in Höhe von 2171,– EUR für das Wahlgrab ab. Die Betreuung habe mit dem Tod der Betreuten geendet. Der Antragsteller habe daher zum Zeitpunkt der Beauftragung der Beerdigung keine Erklärung im Namen der Betreuten mehr abgeben können. Soweit der Antragsteller im Hinblick auf die Erkennbarkeit der beabsichtigten „Stellvertretung“ auf den Zusatz „Betreuer“ in dem Formular der Antragsgegnerin hinweise, verkenne er, dass kein allgemeiner Grundsatz des Inhalts bestehe, dass ein Betreuer immer im Namen des Betreuten handele. Vielmehr könne der Betreuer bewusst im eigenen Namen Rechtsgeschäfte abschließen, die den Betreuten beträfen. Es obliege ihm klarzustellen, welchen Weg er wähle. Hiergegen legte der Antragsteller Beschwerde ein.

Die Entscheidung des VGH

Der 1. Senat des VGH hat den Beschluss des Verwaltungsgerichts bestätigt und die Beschwerde zurückgewiesen. Zur Begründung führt er aus, die Hinzufügung des Zusatzes „(Betreuer)“ hinter den Namen des Antragstellers führe bereits nicht zu einem eindeutigen Handeln in fremdem Namen, da der Zusatz auch allein aus dem Grund erfolgt sein könne, die Beziehung zur Verstorbenen zu kennzeichnen. Zudem sei auch für einen Laien, dem in rechtlicher Hinsicht nicht notwendig bewusst sein müsse, dass mit dem Tod des Betreuten die Betreuung und damit die Vertretungsmacht des Betreuers erlischt, unmittelbar einsichtig, dass der Betreute nach seinem Tod durch Handlungen seines Betreuers nicht mehr verpflichtet werden könne und dass ein Handeln für einen anderen allenfalls den Erben des Verstorbenen (oder die Erbengemeinschaft) verpflichten kann. Auch für den ehrenamtlichen Betreuer müsse sich daher die Frage stellen, ob er die Rechtsmacht habe, den Erben – der unabhängig von der hier streitigen öffentlich-rechtlichen Kostentragungspflicht bürgerlich-rechtlich nach § 1968 BGB die Kosten der Beerdigung zu tragen habe – durch Erklärungen zur Bestattung vertreten und durch diese Erklärungen verpflichten zu können.

Schließlich habe der Antragsteller durch die Unterzeichnung der Gebühren- und Kostenübernahmeerklärung eindeutig und ohne einen Hinweis auf seine Betreuerstellung erklärt, für die Bezahlung der anfallenden Gebühren und Kosten die Haftung als Selbstschuldner zu übernehmen. Diese Erklärung stelle nicht nur einen eigenen Rechtsgrund für die streitige Forderung dar, sondern spreche auch dafür, bereits den Antrag auf Verlängerung eines Nutzungsrechts am Wahlgrab auf die Dauer von 15 Jahren als Erklärung des Antragstellers im eigenen Namen auszulegen.

Quelle: Pressemitteilung des VGH Baden-Württemberg

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BGH: Umfassende Beratungspflicht der Sozialleistungsträger – auch über den eigenen Leistungsbereich hinaus

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) befasste sich am 2. August 2018 in einer Entscheidung (Az. III ZR 466/16) mit der Frage, welche Anforderungen an die Beratungspflicht des Trägers der Sozialhilfe gemäß § 14 Satz 1 SGB I zu stellen sind, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung (§§ 41 ff SGB XII) ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf erkennbar ist.

Ein behinderter Mann, dem wegen lückenhafter Beratung beim Sozialamt über Jahre eine Erwerbsminderungsrente entgangen war, kann nun auf Schadenersatz in Höhe von gut 50.000 Euro hoffen. Seine Mutter und Betreuerin hatte die deutlich niedrigere Grundsicherung beantragt. Ein Hinweis durch die Sachbearbeiterin, dass für ihren Sohn eine Erwerbsminderungsrente vielleicht in Betracht kommen könnte, erging nicht.

Die damals zuständige Sachbearbeiterin im Sozialamt hätte besser beraten müssen – so das Urteil der Bundesrichter. Zumindest dann ist der Sozialleistungsträger (hier das Sozialamt) verpflichtet, Bürger auf etwaige Ansprüche, die sie nicht beantragt haben, hinzuweisen, wenn es dafür Anhaltspunkte gibt.

Dies sah der BGH im vorliegenden Fall als gegeben an:

Der Sachverhalt

Der 1984 geborene Sohn ist schwer geistig behindert und steht unter Betreuung durch seine Mutter. Er besuchte bis Juli 2002 eine Förderschule und nahm dann bis September 2014 in einer Werkstatt für behinderte Menschen an berufsbildenden Maßnahmen teil. In der Folgezeit war es ihm nicht möglich, eine Arbeitsstelle zu bekommen und seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Seine zur Betreuerin bestellte Mutter beantragte deshalb im Dezember 2004 beim Landratsamt Meißen laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Nach einem Sachbearbeiterwechsel im Jahr 2011 wurde die Mutter erstmals darüber informiert worden war, dass der Sohn einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung habe. Tatsächlich bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund auf entsprechenden Antrag auch eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente mit Wirkung ab 1. August 2011. In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt, dass die Anspruchsvoraussetzungen bereits seit dem 2004 erfüllt seien.

Hinweis: Voraussetzung für eine Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI ist normalerweise eine Vorversicherungszeit von fünf Jahre. Diese allgemeine Wartezeit gilt nicht für Personen, die schon in den ersten sechs Jahren nach ihrer Ausbildung nicht mehr arbeiten können und trotzdem mindestens ein Jahr lang Beiträge gezahlt haben. Diese Sonderregelung traf auf den Sohn zu.

Die Begründung des BGH

Unter den gegebenen Umständen war anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung zumindest ein Hinweis vonseiten der Sachbearbeiterin notwendig, dass auch ein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente (heute: Erwerbsminderungsrente) in Betracht kommen könne und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten sei.

Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems – so der BGH in seinen Ausführungen.

Im Vordergrund stehe dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oder sein Bevollmächtigter oft nicht verfügt.

Die Kompliziertheit des Sozialrechts liege gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht sei deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat. Die Beratungspflicht geht über den eigenen Leistungsbereich hinaus.

Im konkret vorliegenden Fall musste – nach Ansicht des BGH – ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen könnte. Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten.

Aus diesem Gründen sah der BGH eine Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG als gegeben an, hob die Entscheidung des Berufungsgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung durch einen anderen Senat zurück.

Quelle: Pressemitteilung des BGH, 130/2018

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