Pflege: Reform oder Mogelpackung?

Die Pflegereform nimmt Fahrt auf. Am Mittwoch, den 2.6.2021 verabschiedete das Bundekabinett eine „Formulierungshilfe für Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen zum Bundeszuschuss GKV und für Reformschritte in der Pflege“.

Bessere Bezahlung – höherer Beitrag

Bekannt geworden war schon vorher, dass alle Pflegekräfte nach Tarif bezahlt werden sollen – ab 1. September 2022. Dann sollen nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen werden – also mit der Pflegeversicherung abrechnen können –, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlen.

Der Beitragszuschlag für Kinderlose soll ab 2022 um 0,1 Prozentpunkte angehoben werden, hierdurch würde die Pflegeversicherung zusätzlich 400 Mio. Euro/Jahr erhalten. Eine weitere Milliarde jährlich soll die Pflegeversicherung als Bundeszuschuss aus Steuergeldern erhalten.

Eckpunkte und Arbeitsentwurf

Letzten Herbst hat das BMG ein Eckpunktepapier vorgelegt für eine „umfassende“ Pflegereform (siehe auch hier). Schon dazu hagelte es Kritik, unter anderem wegen des zu geringen Pflegekostendeckels bei der Eigenbeteiligung und der Einschränkung der Flexibilität bei der Verhinderungspflege.

Mitte März 2021 folgte dann der „Arbeitsentwurf“ zur Pflegereform. Dieser sieht nun ein Stufenmodell für den Eigenanteil vor: Je länger ein Bewohner in einem Pflegeheim lebt, desto geringer ist sein Eigenanteil. Im ersten Jahr des Pflegeheim-Aufenthalts sollen die Versicherten bzw. ihre zahlungspflichtigen Angehörigen die vollen Eigenanteile tragen. Im zweiten Jahr sollen die Eigenanteile dann um 25 Prozent sinken, nach mehr als 24 Monaten um die Hälfte. Bei Pflegebedürftigen, die 36 Monate und länger stationär betreut werden, soll sich der Eigenanteil gar um 75 Prozent reduzieren. Aktuell müssen Pflegeheimbewohner im bundesweiten Durchschnitt 2.068 Euro im Monat aus eigener Tasche zahlen.

Kritik aus der Fachwelt

Da die durchschnittliche Verweildauer eines Menschen im Heim bei etwas über einem Jahr liegt, klingt der Vorschlag etwas zynisch. Kritik kommt auch von Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Uni Bremen, der den „Eckpunkten“ noch Lob zollte, weil die Risiken von allen Versicherten und nicht von den einzelnen Heimbewohnern getragen würden. Zum Arbeitsentwurf schreibt er allerdings, dass dieser „relative Deckel“ damit alles andere als gerecht und sozial ausgewogen sei. Die Eigenanteile blieben unkalkulierbar und würden ebenso wie die Sozialhilfeabhängigkeit mittel- und langfristig wieder steigen. Der Arbeitsentwurf fiele damit weit hinter die Ankündigungen des Eckpunktepapiers zurück.

Reform wird versteckt

Um die Verwirrung noch etwas zu vergrößern, soll es jetzt wohl kein eigenständiges Pflegereformgesetz geben. Vielmehr beziehen sich die umfangreichen Formulierungshilfen für Änderungsanträge, die das Kabinett heute beschlossen hat, alle auf den „Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ (GVWG). Dieses Gesetz wurde schon im Februar im Bundestag beraten, die weitere für den Mai vorgesehene abschließende Beratung wurde aber verschoben.

Inhalte der Pflegereform

Wesentliche Inhalte der nun im GVWG verpackten Pflegereform sind:

  • Auch im ersten Jahr sollen Heimbewohner von der Eigenbeteiligung entlastet werden: um 5 Prozent.
  • In der ambulanten Pflege sollen die Leistungsbeträge um fünf Prozent erhöht werden.
  • Nach einer Krankenhausbehandlung wird oft eine stärkere Versorgung durch Pflegekräfte benötigt. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, soll die Kurzzeitpflege deutlich ausgebaut werden. Dafür soll auch der Leistungsbeitrag der Pflegeversicherung um zehn Prozent angehoben werden.
  • Neuer Anspruch auf Übergangspflege bis zu 10 Tage für den Fall, dass im Anschluss an eine Krankenhausversorgung eine Pflege im eigenen Haushalt oder etwa in einer Kurzzeitpflege nicht sichergestellt werden kann.
  • In der stationären Altenpflege soll ein einheitliches Personalbemessungsverfahren eingeführt werden.

Und wie schon erwähnt: die Tarifbindung und die Erhöhung des Beitrags für Kinderlose.

Eltern gegen Kinderlose

Mit dem letzten Punkt wird übrigens wieder ein unnötiger Streit angefacht zwischen Kinderlosen und Eltern, damit keiner darüber diskutiert, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre in Deutschland um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020, also während der Pandemie, um mehr als 100 Milliarden Euro angewachsen (Zeit.de).

Mogelpackung

Massive Kritik an den Pflegereformplänen kommt auch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Die Vorschläge der Großen Koalition seien ein “fauler Kompromiss” und der Gesetzentwurf eine “Mogelpackung”. Es fehle nach wie vor eine wirksame Regelung zur Deckelung der Eigenanteile bei den Pflegekosten, die alle Betroffenen wirklich entlaste. Auch der Kompromiss zur Entlohnung von Pflegekräften falle weit hinter die Ankündigungen zurück. Der Paritätische bekräftigt seine Forderung nach einer Vollkaskoversicherung als Bürgerversicherung, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit wirksam absichert. Übergangsweise fordert der Verband eine Begrenzung des Eigenanteils in Höhe von 15 Prozent, die Pflegekassen sollen stattdessen stärker in die Pflicht genommen werden.

Quellen: BMG, VDEK, Tagesschau, Paritätischer Wohlfahrtsverband, ZEIT, FOKUS-Sozialrecht

Abbildung: pixabay.com rollators-4916806_1280.jpg

Teilhabestärkungsgesetz im Bundesrat

Nach dem Bundestag hat am 28. Mai 2021 auch der Bundesrat dem Teilhabestärkungsgesetz zugestimmt, um Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen in deren Alltag und Arbeitsleben zu verbessern.

Mehr zu den Inhalten des Gesetzes

Bundesrat will Kostenbeteiligung

Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom 26. März 2021, BR-Drucksache 129/21 (Beschluss) gefordert, Artikel 7 Nummer 15 des Teilhabstärkungsgesetzes (samt Folgeänderungen) zunächst aus dem Gesetz auszuklammern, da die Ausarbeitung der Rechtsverordnung, die zur Umsetzung des veränderten § 99 SGB IX erforderlich ist, noch aussteht. Diese Rechtsverordnung wird den leistungsberechtigten Personenkreis wesentlich bestimmen und sollte daher nicht losgelöst von der Gesetzesänderung betrachtet werden. Darauf hatten bereits die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder am 26. November 2020 einstimmig hingewiesen.
Der Bund hat sich entschieden, dieser Forderung der Länder nicht zu entsprechen. Da aber Kostenfolgen für Länder und Kommunen nicht überblickt werden können, solange der Inhalt der Rechtsverordnung zum leistungsberechtigten Personenkreis nicht feststeht, ist der Bund gefordert, etwaige Mehrkosten auszugleichen.

Arbeisgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“

Der neue § 99 ist also in Kraft. Der Wortlaut entspricht dem Vorschlag der Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“.

Keine Veränderung des Personenkreises

Nach intensiven Erörterungen im Gesetzgebungsverfahren des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde mit Artikel 25a BTHG für § 99 SGB IX eine Regelung zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe (SGB IX Teil 2) aufgenommen, die durch ein späteres Bundesgesetz konkretisiert und zum 1. Januar 2023 in Kraft gesetzt werden sollte. Zuvor sollte durch eine wissenschaftliche Untersuchung und eine modellhafte Erprobung der Regelung u. a. ihre Vereinbarkeit mit dem übergeordneten gesetzgeberischen Ziel – keine Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises – überprüft werden. Da die in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis geführt hat, dass die im BTHG vorgesehene Regelung zu einer Veränderung des leistungsberechtigten Personenkreises führen würde, ist dieses Konzept hinfällig.

Angleichung an UN-BRK und ICF

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2018 einen partizipativen Beteiligungsprozess initiiert, um ein alternatives Konzept zu Artikel 25a § 99 BTHG zu entwickeln. Die sich in diesem Rahmen gebildete Arbeitsgruppe „Leistungsberechtigter Personenkreis“ hat sich 2019 auf ein Konzept verständigt, wonach die Kriterien für die Berechtigung zu Leistungen der Eingliederungshilfe durch Orientierung an den Begrifflichkeiten der UN-BRK und der ICF angepasst werden sollen. In diesem Konzept ist – wie im alten Recht der Eingliederungshilfe – neben einer gesetzlichen Regelung eine diese Regelung konkretisierende Rechtsverordnung vorgesehen. Der von der Arbeitsgruppe ausgearbeitete Vorschlag der gesetzlichen Regelung wird nun umgesetzt.

Ziel der Arbeitsgruppe

Ziel der Arbeitsgruppe war es, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der Menschen mit Behinderungen, der kommunalen Leistungsträger, der Leistungserbringer und der Länder sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft und Praxis auf die Grundzüge eines Modells zur Ausgestaltung des leistungsberechtigten Personenkreises verständigen. 

Die konkreten Vorschläge zur künftigen Ausgestaltung der Regelungen des Leistungszugangs stehen vor dem Hintergrund, dass sich der leistungsberechtigte Personenkreis in der Eingliederungshilfe nicht verändern soll.

Zentrale Ergebnisse

  • Die Kriterien für den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe werden so angepasst, dass sie sich an den Begrifflichkeiten der UN-BRK und der ICF orientieren.
  • Neben der gesetzlichen Regelung im künftigen § 99 SGB IX wird es eine konkretisierende Rechtsverordnung geben.
  • Für einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe ist auch künftig das Vorliegen einer Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX nicht ausreichend. Zusätzlich muss ein weiteres Kriterium erfüllt sein.
  • Der Begriff der „wesentlichen“ Behinderung, der für einen Zugang zu Eingliederungshilfeleistungen erforderlich ist, wird künftig legal in § 99 Abs. 1 SGB IX definiert.
  • Liegt keine „wesentliche“ Behinderung vor, können Personen mit einer anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbehinderung auch künftig Leistungen der Eingliederungshilfe im Ermessensweg erhalten.
  • Entscheidend für das Vorliegen einer „wesentlichen“ Behinderung ist, dass die Beeinträchtigung in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu einer wesentlichen Einschränkung der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft führt, statt, wie in den bisherigen Regelungen formuliert, zur Einschränkung der Teilhabefähigkeit.

Nächstes Ziel: Verordnung

Eine vollständige Einigung des Verordnungstextes konnte im Rahmen der Arbeitsgruppe nicht mehr erreicht werden. Zur Klärung der verbliebenen offenen Fragen soll ein Folgeprozess stattfinden.

Umfassende Berichterstattung zum Bundesteilhabegestz und dessen Umsetzung finden Sie hier.

Quellen: Bundesrat, FOKUS-Sozialrecht, umsetzungsbegleitung-bthg.de

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