In der ersten Bundestagssitzungswoche nach der Sommerpause, am 10. September 2020, steht die „Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996″ auf der Tagesordnung.
Abkommen über soziale Rechte
Die Europäische Sozialcharta (ESC) ist ein vom Europarat initiiertes und 1961 von einer Mehrheit seiner Mitglieder beschlossenes völkerrechtlich verbindliches Abkommen, das der Bevölkerung innerhalb der Unterzeichnerstaaten umfassende soziale Rechte garantiert. Die ESC trat am 26. Februar 1965 in Kraft.
Der Europarat ist eine am 5. Mai 1949 durch den Vertrag von London gegründete europäische internationale Organisation. Dem Europarat gehören heute 47 Staaten mit 820 Millionen Bürgern an. Der Europarat ist etwas anderes als die Europäische Union (EU9. Auch einige EU-Institutionen wie der Europäischer Rat (Organ der Staats- und Regierungschefs) und der Rat der Europäischen Union (Ministerrat) sollte nicht mit dem Europarat verwechselt werden.
Bindende Rechte
In der ESC wurden 19 soziale Rechte aufgelistet, darunter 7 „bindende“ Rechte:
- das Recht auf Arbeit,
- das Koalitions- oder Vereinigungsrecht,
- das Recht auf Kollektivverhandlungen,
- das Recht auf soziale Sicherheit,
- das soziale Fürsorgerecht,
- das Recht auf besonderen gesetzlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie, und
- die Schutzrechte für Wanderarbeiter und ihre Familien.
Revidierte Fassung
1996 wurde die Sozialcharta überarbeitet (revidiert). Seitdem werden 31 Rechte und Grundsätze aufgeführt. Hinzugekommen sind beispielsweise
- das Recht auf eine Wohnung,
- der besonderen Schutz alter Menschen,
- Kündigungsschutz oder
- der Schutz vor Armut.
Überprüfung, Beschwerden
Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich zur Einhaltung der sozialen Mindeststandards. Sie müssen periodisch einen Bericht abgeben, der vom Europäischen Ausschuss für Sozialrechte auf die Vereinbarkeit mit der Soziacharta geprüft wird.
Internationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sowie international arbeitende Nichtregierungsorganisationen (NGO), sowie nationale Gewerkschaften und NGOs der Vertragsparteien können über Nichteinhalten der Vorgaben Beschwerde einreichen. Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention können Einzelpersonen dies nicht.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte die ESC-Fassung von 1965 ratifiziert. Die Ratifizierung der Revision der ESC (RESC) von 1996 steht aber noch aus. Dies soll am 10.9. im Bundestag beraten werden. Allerdings soll die Vorlage zunächst ohne Aussprache in die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden.
Ratifizierung steht noch aus
Ziel der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC) ist es, die aktuelle Bedeutung der ursprünglichen Europäischen Sozialcharta zu unterstreichen und zwischenzeitlich entstandene Regelungslücken zu schließen und arbeits- und sozialrechtliche Ergänzungen und Neuerungen in den Kreis ihrer Regelungen aufzunehmen. Neben unveränderten und teilweise überarbeiteten Regelungen der ursprünglichen Sozialcharta enthält die Revidierte Europäische Sozialcharta gänzlich neue Regelungen, die insgesamt mit einem übergreifenden Diskriminierungsverbot in Artikel E miteinander verbunden sind. Daneben sind
die Grundregeln für die Ratifikation, also die Auswahlmöglichkeiten für die Vertragsstaaten modifiziert und im neuen Artikel A (alt Artikel 20 ESC) zusammengefasst (Ratifikation „à la Carte“). In Artikel B ist eine Bestandsschutzklausel aufgenommen, nach der mit der ESC ratifizierte Artikel von der Ratifikation der RESC ebenfalls umfasst sein müssen. Für die Vertragsstaaten sind durch die Ratifikation der RESC dann die Regelungen in der Fassung der RESC bindend, während die früheren Regelungen der ESC abgelöst werden und nicht mehr anwendbar sind.
Da sich die Europäische Sozialcharta vom 3. Mai 1996 auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, bedarf es gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung eines Vertragsgesetzes.
Die Vertragsstaaten haben also die Möglichkeit bei der Ratifikation auszuwählen, welche Vorgaben der Sozialcharta sie verpflichtend umsetzen wollen.
Vorbehalte
Vorbehalte hat die Bundesregierung etwa bei
- Artikel 4, Nr.4: Verpflichtung, das Recht aller Arbeitnehmer auf eine angemessene Kündigungsfrist im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses anzuerkennen.
- Artikel 7, Nr.1: Verpflichtung, das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung auf 15 Jahre festzusetzen, vorbehaltlich von Ausnahmen für Kinder, die mit bestimmten leichten Arbeiten beschäftigt werden, welche weder ihre Gesundheit noch ihre Moral noch ihre Erziehung gefährden.
- Artikel 8, Nr.2: Verpflichtung, es als ungesetzlich zu betrachten, dass ein Arbeitgeber einer Frau während der Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem sie den Arbeitgeber von ihrer Schwangerschaft in Kenntnis setzt, und dem Ende ihres Mutterschaftsurlaubs oder so kündigt, dass die Kündigungsfrist während dieser Zeit abläuft.
- Artikel 21: Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen
- Artikel 24: Das Recht auf Schutz bei Kündigung
- Artikel 31: Das Recht auf Wohnung
Begründungen
In dem vorliegenden Gesetzentwurf werden ab Seite 55 ausführliche und umfangreiche Begründungen vorgelegt, warum die Bundesregierung einzelne Artikel oder Teile von Artikeln von der Ratifizierung ausschließen will. Es handelt sich natürlich nicht um generelle Ablehnung der Rechte und Verpflichtungen. Es geht in der Regel um juristische Bedenken, weil einzelne Formulierungen in Konflikt mit bestehenden nationalen gesetzlichen Vorgaben stehen könnten.
Quellen: Bundestag, Europarat, wikipedia
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