70 Jahre Grundgesetz: Unsere Grundrechte praxisnah erklärt

Heute läuft die Aktion „Kinderrechte ins Grundgesetz“ in den Social Media Kanälen (z.B. auf Twitter oder in Facebook) anläßlich des 70. Geburtstags des Grundgesetzes.

Dieser runde Geburtstag war Anlass für uns vom Walhalla Fachverlag ein Büchlein mit Erklärungen von Prof. Schade zu den Grundrechten zu veröffentlichen. Dieses kann als E-Book kostenlos downgeloadet werden.

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Bundestag hebt Wahlausschluss von Vollbetreuten auf; neu: Regelung zu Assistenzleistungen

Am 16.05.2019 wurde der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und anderer Gesetze“ in 2./3. Lesung im Bundestag verabschiedet (Drs. 19/9228). Die Änderungen sollen am 1. Juli 2019 in Kraft treten. Zuvor muss das Gesetz noch den Bundesrat durchlaufen.

Wie berichtet, hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 29. Januar 2019 (Az.: 2 BvC 62/14) die derzeit bestehende Regelung in § 13 Ziffer 2 und Ziffer 3 für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar beurteilt und die Regelungen deshalb für nichtig erklärt. Per einstweiliger Anordnung hatte das Bundesverfassungsgericht am 15. April 2019 die Vorschriften zum Wahlrechtsausschluss von behinderten und psychisch kranken Menschen zur Europawahl gekippt und ermöglicht so, dass die Betroffenen an der Europawahl teilnehmen können (Voraussetzung ist eine Antragstellung – siehe die Ausführungen im gesonderten Beitrag!).

Die Wahlrechtsausschlüsse des § 13 Nummer 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes
und des § 6a Absatz 1 des Europawahlgesetzes werden mit dieser Gesetzesänderung nun beendet.

Zugleich werden

  • die Grenzen zulässiger Assistenz bei der Ausübung des Wahlrechts bestimmt,
  • wird die Strafbarkeit der Wahlfälschung bei zulässiger Assistenz in § 107a des
    Strafgesetzbuches klargestellt
  • die notwendigen Folgeänderungen in der Bundeswahlordnung, der Europawahlordnung und in dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vorgenommen.

Grenzen zulässiger Assistenz:

Nach dem neu eingefügten § 14 Abs. 5 Bundeswahlgesetz kann ein Wahlberechtigter, der nicht lesen kann oder der wegen einer Behinderung seine Stimme nicht selbst abgeben kann, technische Unterstützung bekommen.

„(5) Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen. Die Hilfeleistung ist auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung beschränkt. Unzulässig ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert oder wenn ein Interessenkonflikt der Hilfsperson besteht.“

Die Hilfsperson muss das 16. Lebensjahr vollendet haben. Sie hat eine „Versicherung an Eides statt“ zu unterzeichnen, wenn sie bei der Wahl assistiert. Außerdem ist die Hilfsperson zur Geheimhaltung der Kenntnisse verpflichtet, die sie durch die Hilfeleistung erlangt hat.

Wer unbefugt wählt oder sonst ein unrichtiges Ergebnis einer Wahl herbeiführt oder das Ergebnis verfälscht, macht sich strafbar (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe). Unbefugt wählt auch, wer im Rahmen zulässiger Assistenz entgegen der Wahlentscheidung des Wahlberechtigten oder ohne eine geäußerte Wahlentscheidung des Wahlberechtigten eine Stimme abgibt. Bereits der Versuch ist nach § 107a Abs. 1 und Abs. 3 StGB strafbar.

Kinderrechte im Grundgesetz

Noch hat das Familienministerium (BMFSJ) keinen Gesetzentwurf zur Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz vorgelegt. Dies soll im Laufe des Jahres, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, noch geschehen.

Für den 22.Mai ruft die Initiative „Kinderrechte ins Grundgesetz“ zu einer gemeinsamen Aktion über die sozialen Netzwerke auf. Jeder kann über Twiiter,  Facebook, Instagram und so weiter den Satz „Kinderrechte ins Grundgesetz, damit…“ in seinem Sinne genau am 22.Mai vervollständigen und absenden.

Zu der Initiative gehören unter anderem der Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und Unicef.

Treffen der zuständigen Minister in Weimar

Die Jugend- und Familienminister aller 16 Bundesländer haben sich letzte Woche in Weimar auf eine stärkere Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz der Bundesrepublik geeinigt. Entsprechend des bei einem Treffen am Freitag in Weimar einstimmig gefassten Beschlusses sollen Kinder stärker bei staatlichen Entscheidungen berücksichtigt werden. In der Verfassung soll unter anderem festgehalten werden, dass der Staat Sorge für kindergerechte Lebensbedingungen tragen soll. Eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern soll nun bis Ende des Jahres Vorschläge für die dazu nötige Verfassungsänderung ausarbeiten.

Begründungen der Initiative Kinderrechte

  • Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der KRK verpflichtet, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Rechte zu treffen. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (KRA) legt dafür den Vertragsstaaten die Aufnahme der Kinderrechte in die nationale Verfassung nahe.
  • Die Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland ist durch die aktuelle Rechtslage nicht abgesichert: Es besteht ein erhebliches Umsetzungsdefizit in Rechtsprechung und Verwaltung, da die Rechte durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes oder eine Kombination mit anderen Verfassungsnormen erst kompliziert gewonnen werden müssen.
  • Eine Stärkung der Rechte von Kindern ist angezeigt, da Kinder nicht einfach nur eine gesellschaftliche Teilgruppe von vielen sind. Alle Menschen durchlaufen das Kindesalter und benötigen in dieser Altersphase besondere Rechte, so wie sie in der KRK normiert und von Deutschland mit Ratifizierung anerkannt wurden. Der beispiellose Schutzgehalt des Kindeswohls zeigt sich auch in der Normierung des Kindeswohlvorrangs in anderen menschenrechtlichen Verträgen, der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und der EU Grundrechtecharta.
  • Ein Kindergrundrecht i.S.d. KRK kann in das Grundgesetz eingefügt werden, ohne das grundsätzliche Verhältnis von Kindern, Eltern und Staat anzutasten. Eine Stärkung der Rechte von Kindern führt nicht automatisch zu einer Schwächung der Rechte von Eltern. Im Gegenteil erhalten Eltern dadurch also bessere Möglichkeiten, die Rechte ihrer Kinder gegenüber staatlichen Einrichtungen durchzusetzen.
  • Die Absicherung einer vorrangigen Berücksichtigung des Wohls von Kindern auch auf Verfassungsebene ist nötig, damit Rechtsanwenderinnen, wie Gerichte und Verwaltung, den Interessen von Kindern hinreichend Gewicht verleihen. Das Kindeswohl soll damit nicht eine Entscheidung vorgeben, sondern als eine wesentliche Leitlinie fungieren.
  • Insgesamt würde der Staat seine Verantwortung für kindgerechte Lebensverhältnisse, Kindesinteressen, die Beteiligung von Kindern und die Gewährleistung gleicher Entwicklungschancen für alle Kinder stärker wahrnehmen. Angesichts der aktuellen Debatte über wachsende Kinderarmut, unterschiedliche Bildungschancen, ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in Reich und Arm und häufige Fälle von Vernachlässigung wäre dies ein wichtiges Signal.

Bildungspflicht – Schulpflicht

Ein wesentlicher Punkt in der Kinderrechtskonvention ist das Recht eines jeden Kindes auf Bildung und die Verpflichtung des Staates, jedem Kind, auch Flüchtlingskindern, die Möglichkeit zur Bildung zu bieten. In Deutschland soll dies mit der allgemeinen Schulpflicht gewährleistet sein. Schulpflicht, im Sinne von Bildungspflicht gibt es in vielen Ländern. Allerdings ist damit nur in Deutschland, Nordkorea, Kuba und der Türkei der Zwang damit verbunden, sich in bestimmten Gebäuden aufzuhalten.
Wenn mit Hilfe eines Zusatzartikels über die Menschenrechte des Kindes im Grundgesetz verdeutlicht würde, dass auch Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes für Kinder uneingeschränkt gilt, müsste der Schulgebäude-Anwesenheits-Zwang in Deutschland abgeschafft werden.

Quellen: BMFSFJ, Deutsches Kinderhilfswerk,
zum Thema Bildung außerhalb der Schule hier ein Interview von Alex Capistran  mit Rechtsanwalt Andreas Vogt, erschienen in „Oya – anders denken.anders leben“

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Reform der Hebammenausbildung

In allen EU-Mitgliedsstaaten außer in Deutschland werden Hebammen bereits an Hochschulen ausgebildet. Das Bundeskabinett hat heute den Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums für eine Reform der Hebammenausbildung in Form eines dualen Studiums verabschiedet. Alle Hebammen sollen zukünftig an Hochschulen ausgebildet werden. Die Akademisierung der Hebammenausbildung setzt die Berufsanerkennungsrichtlinie der Europäischen Union um. Das ermögliche künftigen Hebammen und Entbindungshelfern, überall in Europa in ihrem Beruf arbeiten zu können.

EU-Vorgabe

Die Hebammenausbildung muss aufgrund der EU-Richtlinie 2005/36/EG bis zum 18. Januar 2020 novelliert werden. Um die daraus folgenden Vorgaben umzusetzen, soll die Zugangsvoraussetzung zur Hebammenausbildung von einer zehnjährigen auf eine zwölfjährige allgemeine Schulausbildung angehoben werden. Die Hebammenausbildung wird vollständig akademisiert. Das zukünftige Hebammenstudium wird sich an dem dualen Studium orientieren und einen hohen Praxisanteil aufweisen. Vergleichbar einem Bachelor-Studiengang werde das Hebammenstudium sechs bis acht Semester dauern.

Ab 2021

Ab 2021 soll nur noch die Ausbildung an einer Hochschule möglich sein. Bis dahin werden die neuen Studien- und Prüfungsordnungen erarbeitet.

In der Pressemitteilung der Bundesregierung vom 15.5.2019 heißt es: „Wer bereits Hebamme ist und die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Hebamme hat, wird diese Erlaubnis behalten – egal wo und wie die Ausbildung erfolgte. Auch wer derzeit an einer Hebammenschule lernt, darf sich sicher sein: Wer die Ausbildung erfolgreich abschließt, ist und bleibt Hebamme.“

Stellungnahme des DHV

Der Deutsche Hebammenverband  begrüßt ausdrücklich den vorgelegten Gesetzentwurf, plädiert aber für einige Änderungen im Gesetzentwurf:

  • für die bestmögliche Betreuung der Schwangeren soll eine Vorbehaltstätigkeit durch Ärztinnen und Ärzte und Hebammen festgelegt werden,
  • ein weniger umständlicher Weg für die Kostenerstattung der freiberuflichen Externats-Hebammen müsse gefunden werden und
  • den nachträglichen Titelerwerb aller Hebammen zum Bachelor soll ermöglicht werden.

Quellen: Bundesregierung, Deutscher Hebammenverband

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Wohngeld: Gesetzentwurf bringt Verbesserungen

Verbesserungen beim Wohngeld

Die Bundesregierung hat Verbesserungen beim Wohngeld auf den Weg gebracht. Der Gesetzentwurf des Innenministeriums  sieht Verbesserungen für rund 660.000 Haushalten vor, darunter rund 180 000 Haushalte, die durch die Reform erstmals oder wieder einen Wohngeldanspruch erhalten. Der Bundesrat muss jedoch noch zustimmen, weil das Wohngeld je zur Hälfte von Bund und Ländern gezahlt wird. Für einen Zwei-Personen-Haushalt soll das Wohngeld von 145 EUR auf 190 EUR im Monat steigen.

Im jetzt gebilligten Referentenentwurf wird eine Berechnung (Mikrosimulationsrechnung) des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zitiert.

Wechselwirkungsprognose mit anderen Sozialleistungen

In dieser Berechnung werden die komplexen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Sozialleistungen auf Basis der fortgeschriebenen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 des Statistischen Bundesamtes geschätzt.

Danach profitieren von den geplanten Verbesserunden bei Wohngeld insgesamt drei Gruppen:

  • die bisherigen Wohngeldhaushalte, die im Jahr 2020 auch ohne Anpassung Wohngeld bezogen hätten. Die Reform wird den durchschnittlichen, monatlichen Wohngeldbetrag eines Zwei-Personen-Haushalts, der auch ohne Reform Wohngeld bekommen würde, voraussichtlich von 145 Euro im Jahr 2020 ohne Reform auf 190 Euro erhöhen. Dies entspricht einer Steigerung von rund 30 Prozent.
    Dazukommen werden bis Ende 2020 rund 35 000 Mischhaushalte, bei denen einzelne Haushaltsmitglieder ihren Bedarf dauerhaft durch das Wohngeld decken, während die übrigen Haushaltsmitglieder Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehungsweise Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) beziehen.
  • so genannte Hereinwachserhaushalte, deren Einkommen bislang die Grenzen für einen Wohngeldanspruch überschritten haben und die 2020 erstmals oder wieder mit Wohngeld bei den Wohnkosten entlastet werden. Ende 2020 sind das  rund 155 000 Haushalte, die zum Beispiel im Falle von Zwei-Personen-Haushalten zukünftig durchschnittlich 40 Euro monatlich erhalten.
  • so genannte Wechslerhaushalte, die zuvor Leistungen nach dem SGB II oder nach dem SGB XII bezogen haben: Rund 20 000 Wohngeldhaushalte würden ohne Reform Ende 2020 Leistungen des SGB II beziehen. Zwei-Personen-Wechslerhaushalte werden nach der Reform im Jahr 2020 durchschnittlich 185 Euro Wohngeld pro Monat erhalten. Weitere rund 5 000 Haushalte wechseln aus dem SGB XII in das Wohngeld. Dabei handelt es sich zum überwiegenden Teil um Ein-Personen-Rentnerhaushalte. Diese werden nach der Reform im Jahr 2020 monatlich im Durchschnitt 85 Euro erhalten.

Insgesamt – bezogen auf alle Empfängergruppen – werden Zwei-Personen-Haushalte nach den Berechnungen des IW Köln nach der Reform im Jahr 2020 durchschnittlich 150 Euro Wohngeld erhalten. Bis 2022 wird die Anzahl der Wohngeldempfängerhaushalte auf rund 600 000 Haushalte absinken – vor allem aufgrund von prognostizierten Einkommenssteigerungen und aufgrund des Wechsels in die Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII, die anders als das Wohngeld jährlich angepasst werden.

Quelle: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat

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BSG: Jobcenter zahlt Schulbücher

Urteil

Das Bundessozialgericht hat heute (8.5.2019) entschieden, dass die Kosten für Schulbücher vom Jobcenter als Härtefall-Mehrbedarf zu übernehmen sind, wenn Schüler mangels Lernmittelfreiheit ihre Schulbücher selbst kaufen müssen. (Aktenzeichen B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R). Siehe auch hier.

Die Kosten für Schulbücher sind zwar dem Grunde nach vom Regelbedarf erfasst, nicht aber in der richtigen Höhe, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht. Denn der Ermittlung des Regelbedarfs liegt eine bundesweite Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zugrunde. Deren Ergebnis für Schulbücher ist folglich nicht auf Schüler übertragbar, für die anders als in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit in der Oberstufe gilt.

Daher sind Schulbücher für Schüler, die sie mangels Lernmittelfreiheit selbst kaufen müssen, durch das Jobcenter als Härtefall-Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II zu übernehmen. Dieser Mehrbedarf wurde aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz eingeführt.

Ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 SGB II scheidet aus, weil dieses einen vom Regelbedarf zutreffend erfassten Bedarf voraussetzt, was bei fehlender Lernmittelfreiheit gerade nicht der Fall ist.

Was sind Mehrbedarfe im SGB II?

Bestimmte Personengruppen oder Personen in Sondersituationen erhalten über die Regelleistung hinaus höhere Leistungen (Mehrbedarfe). Diese werden (meist) in Form prozentualer Anteile vom monatlichen Regelbedarf (mtl. RB) berücksichtigt. Die Summe des insgesamt gezahlten Mehrbedarfs darf den für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten maßgebenden Regelbedarf nicht übersteigen.

Überblick über die Mehrbedarfe (§ 21 SGB II)

Werdende Mütter
(ab der 13. Schwangerschaftswoche):
17% der maßgebenden RBS § 21 Abs. 2 SGB II
Alleinerziehende (mit einem Kind unter 7 Jahren, bzw. 3 Kindern unter 16 Jahren): 36% der maßgebenden RBS § 21 Abs. 3 Nr.1 SGB II
Alleinerziehende (mit minderjährigen Kindern): pro Kind: 12% der maßgebenden RBS je Kind (maximal 60%. § 21 Abs. 3 Nr.2 SGB II
erwerbsfähige Behinderte mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 49 SGB IX oder bei Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 SGB XII: 35% der maßgebenden RBS § 21 Abs. 4 SGB II
§ 23 Abs. 1 Nr.3 SGB II
Nicht Erwerbsfähige, die voll erwerbsgemindert sind und einen Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen G haben 17% der maßgebenden RBS § 23 Abs. 1 Nr.4 SGB II
Kranke: kostenaufwändiger Ernährung aus medizinischen Gründen: in angemessener Höhe (in der Regel 10% bis 30%) § 21 Abs. 5 SGB II
Bei unabweisbaren, laufenden und nicht einmaligen besonderen Bedarfen in tatsächlicher Höhe § 21 Abs. 6 SGB II
Dezentrale Warmwasserversorgung Pauschalierung je nach Regelbedarfstufe § 21 Abs. 7 SGB II

Das Bundessozialgericht bezieht sich in seinem Urteil auf  den „unabweisbaren“ Bedarf in Absatz 6 des § 21.

Dieser Absatz 6 wurde nachträglich  (2010) in das SGB II eingefügt, nach einem herben Rüffel durch das Bundesverfassungsgericht (BVG 1 BvL 1/09).

„Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.“

Definitionen:

Ein besonderer Bedarf liegt vor, wenn er neben den durchschnittlichen Bedarfen, die mit dem Regelbedarf abgedeckt sind, in einer atypischen Lebenslage besteht (atypischer Bedarf).

Unabweisbar ist ein Bedarf, wenn er nicht aufschiebbar und daher zur Vermeidung einer akuten Notsituation unvermeidlich ist. Insbesondere darf dieser Bedarf auch nicht durch die Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten gedeckt werden können. In seiner Höhe muss er erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichen.

Laufend ist ein Bedarf, wenn die Kosten in regelmäßigen Abständen anfallen – also nicht nur eine einmalige unabwendbare Situation (z.B. kaputter Kühlschrank).

Quellen: Bundessozialgericht, Bundesverfassungsgericht, SOLEX

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Impfpflicht und Statistik

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will noch dieses Jahr die Impfpflicht einführen. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt vor:

  • Kinder, die bereits in die Kita oder in die Schule gehen, müssen den Nachweis bis zum 31. Juli 2020 nachreichen. Kinder, die bereits in die Kita oder in die Schule gehen, müssen den Nachweis bis zum 31. Juli 2020 nachreichen.
  • Wer sein Kind nicht impfen lässt, dem drohen Bußgelder in Höhe von bis zu 2500 Euro.
  • Nichtgeimpfte Kinder können von der Kita ausgeschlossen werden

Die Impflücken bei Masern in Deutschland seien weiterhin zu groß, wie aus neuen Auswertungen des RKI zu Impfquoten hervor gehe. Zwar haben 97,1 Prozent der Schulanfänger die erste Impfung bekommen. Aber bei der entscheidenden zweiten Masernimpfung gibt es große regionale Unterschiede, so dass auf Bundesebene die gewünschte Impfquote von 95 Prozent noch immer nicht erreicht wird. Nach den neuen Daten des RKI sind gut 93 Prozent der Schulanfänger 2017 zweimal gegen Masern geimpft.

Da lohnt sich ein Blick auf andere EU – Länder:

Länder in roter Schrift haben Impfpflicht. Dabei fällt auf, dass die Durchimpfungsquote nach der zweiten Impfung nur in 4 Ländern von 10 mit Impfpflicht höher ist als in Deutschland. Insgesamt haben 20 Länder eine noch niedrigere Durchimpfungsquote nach der zweiten Impfung.

Weiter fällt auf, dass in vielen Ländern der empfohlene Zeitpunkt der  Zweitimpfung nur in einem Land (Ungarn) früher liegt als in Deutschland mit 15 Monaten.

Zu der Zahl der Masernfälle gibt es vom Robert-Koch-Institut entsprechende Statistiken:

Ein signifikanter Anstieg der Masernfälle ist in den Jahren 2001 bis 2018 nicht zu erkennen. Zwar gibt es in den ersten 15 Wochen des Jahres 2019 schon 337 Masernfälle und damit mehr als etwa in den ersten 15 Wochen des 2018 (156). Die Durchschnittsanzahl der Masernfälle lag aber in den letzten 19 Jahren bei 596 Fällen in den ersten 15 Wochen des Jahres. Selbst, wenn man 2001 und 2002 nicht mit einrechnet (2188, bzw. 2919 Fälle) kommt man für die letzten 17 Jahre in den ersten 15 Wochen auf einen Durchschnitt von 366 Masernfällen.

Damit stellt sich die Frage, ob eine Impfpflicht wirklich mit „stark gestiegenen“ Zahlen begründet werden kann.

Noch mal zu der ersten Tabelle: 2017 wurde die gewünschte Durchimpfungsrate von 95% von  6 Ländern erreicht, drei mit Impfpflicht, drei ohne Impfpflicht.

Quellen: Bundesministerium für Gesundheit, Robert-Koch-Institut: SurvStat@RKI 2.0, https://survstat.rki.de, Abfragedatum: 05.05.2019

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Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe

Die Bafög-Reform befindet sich zur Zeit im parlamentarischen Verfahren. Sie soll in wesentlichen Teilen zum 1. August noch in diesem Jahr in Kraft treten. Eng mit den Finanzierungshilfen für Schule und Studium sind die finanziellen Hilfen für die Berufsausbildung verknüpft, die Berufsausbildungsbeihilfe (BAB), und das Ausbildungsgeld.

Was leistet die BAB?

Rechtsgrundlage sind §§ 56 ff. SGB III.

Auszubildende haben einen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe, wenn die Berufsausbildung förderungsfähig ist, sie zum förderungsfähigen Personenkreis gehören und ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können.

Auszubildende erhalten Berufsausbildungsbeihilfe (BAB), wenn sie nicht mehr bei den Eltern wohnen können, weil der Ausbildungsbetrieb vom Elternhaus zu weit entfernt ist.

Sind Auszubildende über 18 Jahre alt oder verheiratet (oder waren verheiratet) oder haben mindestens ein Kind, können sie auch BAB erhalten, wenn sie in erreichbarer Nähe zum Elternhaus leben.

Gezahlt wird für die Dauer der Ausbildung.

Ein Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe während einer beruflichen Ausbildung oder einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme besteht, wenn

die Ausbildung oder die Maßnahme förderungsfähig ist,

die Auszubildenden zum förderungsfähigen Personenkreis gehören und die sonstigen persönlichen Voraussetzungen für eine Förderung erfüllt sind und

den Auszubildenden die erforderlichen Mittel zur Deckung des Bedarfs für den Lebensunterhalt, die Fahrkosten, die sonstigen Aufwendungen und die Maßnahmekosten nicht anderweitig zur Verfügung stehen.

Teilnehmende an einer ausbildungsvorbereitenden Phase der Assistierten Ausbildung nach § 130 SGB III haben ebenfalls Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe wie Auszubildende in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme.

Die Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe orientieren sich teilweise an den Regelungen im Bundesausbildungsförderungsgesetz.

Was ist Ausbildungsgeld?

Rechtsgrundlage ist § 122 SGB III.

Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer beruflichen Ausbildung oder berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme einschließlich einer Grundausbildung.

Menschen mit Behinderungen haben ebenfalls Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer Maßnahme im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Genauso besteht Anspruch auf Ausbildungsgeld einer individuellen betrieblichen Qualifizierung im Rahmen der Unterstützten Beschäftigung im Sinne des § 55 SGB IX.

Für das Ausbildungsgeld gelten die Vorschriften über die Berufsausbildungsbeihilfe entsprechend

Gesetzentwurf

Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf (19/9478) zur Anpassung der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes vorgelegt. Mit dem Gesetzentwurf sollen zum einen die jüngsten Änderungen beim Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) nach- und mitvollzogen werden. Zum anderen sollen die Verfahrensvorschriften vereinfacht werden, um die Harmonisierung mit dem BAföG künftig mit geringerem Verwaltungsaufwand zu erreichen, schreibt die Regierung.

Im Detail sieht der Entwurf unter anderem vor:

  • die Unterkunftskosten in der Berufsausbildungsbeihilfe und im Ausbildungsgeld werden einheitlich pauschaliert.
  • Die Bedarfsstruktur des Ausbildungsgeldes wird vereinfacht und an jene der Berufsausbildungsbeihilfe angeglichen.
  • Die bisherige Unterscheidung nach Alter und Familienstand der Auszubildenden soll entfallen.
  • Die Höhe des Ausbildungsgeldes soll an die BAföG-Bedarfssätze angeglichen werden.
  • Erhöhungen soll es auch im Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen geben.

Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 12. April 2019 gegen den Gesetzentwurf keine Einwendungen erhoben.

Quelle: Bundestag, SOLEX

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Schulbücher vom Jobcenter?

Am Mittwoch, dem 8. Mai 2019 wird der 14. Senat des Bundessozialgerichts mündlich in zwei Verfahren verhandeln und anschließend entscheiden (Aktenzeichen B 14 AS 6/18 R, B 14 AS 13/18 R).

In beiden Fällen bezogen die Klägerinnen mit ihren Familien laufend Arbeitslosengeld II vom beklagten Jobcenter. Zu Beginn des Schuljahrs, in dem sie die 11. Klasse des Gymnasiums besuchten, beantragten sie Geld für Schulbücher, die sie selbst kaufen müssten, weil in Niedersachsen in der Oberstufe keine Lernmittelfreiheit besteht.

Das Jobcenter lehnte den Antrag ab: Schulbücher seien vom Regelbedarf umfasst. Der Betrag könne angespart werden können, auch sei der Erwerb gebrauchter Bücher zumutbar. Ein mögliches Darlehen nach § 24 Absatz 1 SGB II werde nicht begehrt.

Das LSG hat das Jobcenter verurteilt, den Klägerinnen circa 135 beziehungsweise 200 Euro für Schulbücher zu zahlen. Schulbücher seien vom Regelbedarf offensichtlich unzureichend erfasst. Diese Lücke sei wegen der gebotenen verfassungskonformen Auslegung durch eine analoge Anwendung des Härtefall-Mehrbedarfs nach § 21 Absatz 6 SGB II zu schließen.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 21 Absatz 6 SGB II. Dessen Voraussetzungen lägen nicht vor und eine analoge Anwendung scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus. Vorrang habe vielmehr ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 SGB II.

Das Sozialgericht Hannover, Beschluss vom 31.08.2005 – S 46 AS 531/05 ER entschied in einem ähnlichen Fall, dass die Behörde notwendige Lernmittel als unaufschiebbare Notlage auf Darlehensbasis erbringen muss, wenn keine Ansparung oder geschütztes Vermögen vorhanden ist. Damals gab es allerdings noch keine Leistungen für Bildung und Teilhabe.

Hinweise zur Rechtslage

§ 20 Absatz 1 SGB II lautet:

„Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Der Regelbedarf wird als monatlicher Pauschalbetrag berücksichtigt. Über die Verwendung der zur Deckung des Regelbedarfs erbrachten Leistungen entscheiden die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen.“

§ 21 Absatz 6 SGB II lautet:

„Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“

§ 24 Absatz 1 SGB II lautet:

„Kann im Einzelfall ein vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf nicht gedeckt werden, erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt der oder dem Leistungsberechtigten ein entsprechendes Darlehen. Bei Sachleistungen wird das Darlehen in Höhe des für die Agentur für Arbeit entstandenen Anschaffungswertes gewährt. Weiter gehende Leistungen sind ausgeschlossen.“

§ 28 Absatz 3 Satz 1 SGB II lautet:

„Für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf werden bei Schülerinnen und Schülern 70 Euro zum 1. August und 30 Euro zum 1. Februar eines jeden Jahres berücksichtigt.“

Quelle: Bundessozialgericht

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Klarstellung des BGH: Schonvermögensgrenze für Betreuervergütung bei 5.000 € – Erhöhungen durch das BTHG sind nicht anzuwenden

Die Eingliederungshilfe wird durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) zum 1.1.2020 aus dem SGB XII (Sozialhilfe) herausgelöst und in das SGB IX als neues eigenes Leistungsgesetz in Teil 2 integriert. Im Zuge dessen verbessern sich auch die Einkommens- und Vermögensgrenzen für Menschen mit Behinderungen. Zum 1.1.2017 wurde durch das BTHG eine bis 31.12.2019 geltende Übergangsregelung in § 60 a SGB XII geschaffen: Menschen mit Behinderungen, die Eingliederungshilfe beziehen, erhalten zusätzlich – neben dem bisherigen Schonbetrag nach § 90  Abs. 2 Nr. 9 SGB XII – einen Vermögensfreibetrag i.H.v. von bis zu 25.000 € für ihre Lebensführung und Alterssicherung.

Diese Konstruktion führte zu Unklarheiten, welcher Schonbetrag seit 1.1.2017 bei der Betreuervergütung zu berücksichtigen ist. § 1836c Ziffer 2 BGB formuliert den Einsatz des „Vermögens nach Maßgabe des § 90 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“. Dies bedeutete bis 31.12.2016 bei der Berechnung der Mittellosigkeit im Rahmen der Vergütungsfestsetzung: geschützte Barvermögen in Höhe von 5000 Euro gem. § 1836c Nr. 2 BGB, § 5 Abs. 1, 2 VBVG 1 i.V.m. § 90  Abs. 2 Nr. 9 SGB XII, § 1 der Verordnung zu § 90 Nr. 2 SGB XII.

Mit Geltung ab 1.1.2017 nahmen einige wenige Landgerichtsbezirke an, dass die der neuen Regelung des zusätzlichen Vermögensfreibetrags in § 60a SGB XII auch für die Vergütungsfestsetzung gilt, viele Bezirke dagegen nicht. Auch die Gerichte entschieden uneinheitlich.

Der Bundesgerichtshof stellte nun in seinem Beschluss vom 20.3.2019 (XII ZB 290/18) klar, dass der Vermögensfreibetrag nach § 60a SGB XII keine Anwendung findet:

„Auch wenn ein Betreuter Eingliederungshilfe in einer Werkstatt für behinderte Menschen bezieht, hat er sein Vermögen für die Vergütung seines Betreuers insoweit einzusetzen, als es den allgemeinen Schonbetrag nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII von derzeit 5.000 € übersteigt. Der erhöhte Vermögensfreibetrag nach § 60 a SGB XII von bis zu 25.000 € findet dabei keine Anwendung.“ – so der Leitsatz des BGH.

Neben einer ausführlichen historischen Analyse führt der BGH insbesondere als Argument gegen eine Anwendung an, dass es sich bei der Zahlung der Betreuervergütung aus der Staatskasse nicht um eine Form der Eingliederungshilfe handele. Von daher sei bereits eine Anwendung des § 60a SGB XII – der im 6. Kapitel „Eingliederungshilfe“ verortet ist – nicht angezeigt.

Zudem wäre eine Berücksichtigung der Übergangsregel § 60a SGB XII gegenüber der Rechtslage ab 1.1.2020 eine „vorübergehende“ Besserstellung, was der Gesetzgeber sicher nicht gewollt haben kann. Der BGH argumentiert diesbezüglich wie folgt:

„(a) Durch das Bundesteilhabegesetz wird das Recht der Eingliederungshilfe mit Wirkung zum 1. Januar 2020 aus dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch herausgelöst und im Neunten Buch Sozialgesetzbuch Teil 2 geregelt. Dadurch sollen die mit dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch begonnenen Schritte einer Trennung von Fachleistung und von Leistungen zum Lebensunterhalt zum Ab-schluss gebracht werden. Die Eingliederungshilfe soll sich künftig auf die reinen Fachleistungen konzentrieren, während die Leistungen zum Lebensunterhalt wie bei Menschen ohne Behinderungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetz-buch oder dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erbracht werden sollen (BT-Drucks. 18/9522 S. 4). Die derzeit noch in § 92 Abs. 2 SGB XII genannten Ein-gliederungsmaßnahmen, wie die Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, werden zukünftig in § 138 Abs. 1 SGB IX geregelt sein. Für diese Leistungen wird weiterhin kein Vermögen einzusetzen sein, nachdem § 92 Abs. 2 Satz 2 SGB XII inhaltsgleich in § 140 Abs. 3 SGB IX übernommen wird (BT-Drucks. 18/9522 S. 90 f., 303 f.).

Für alle anderen Leistungen der Eingliederungshilfe sieht der neue § 139 SGB IX eine an § 90 SGB XII angelehnte Regelung zur Vermögensanrechnung vor, wobei die Höhe des einzusetzenden Barvermögens mit mehr als 50.000 € deutlich über den Schonbetrag nach § 90 Abs. 1 [red. Anm.: gemeint ist wohl Abs. 2] Nr. 9 SGB XII hinausgeht. Der Gesetzgeber hielt diese Erhöhung für angezeigt, weil es um Menschen mit erheblicher Teilhabeeinschränkung gehe und die Regelung des § 139 SGB IX nur für Fachleistungen der Eingliederungshilfe gelte (BT-Drucks. 18/9522 S. 91, 304).

Menschen mit Behinderungen sollen also in Bezug auf alle Eingliederungsleistungen des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch, soweit sie nicht ohnehin bereits unabhängig von vorhandenem Vermögen zu erbringen sind, in den Genuss eines erhöhten Freibetrags kommen. Dagegen sollen Leistungen zum Lebensunterhalt auch künftig nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch erbracht werden. Für solche Leistungen wird auch weiterhin nach Maßgabe des § 90 SGB XII – ebenso wie für die Betreuervergütung – vorhandenes Vermögen einzusetzen sein.“

Quelle: Beschluss inklusive Begründung des BGH vom 20.3.2019 (Az. XII ZB 290/18)