Mindestlohn

Die Mindestlohn-Kommission hat am 30.06.2020 ihren Anpassungsbeschluss gefasst und ihren Bericht vorgestellt. Es ist turnusgemäß der dritte Bericht seit der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland im Januar 2015. Dieser liegt derzeit bei 9,35 Euro brutto je Zeitstunde. Die Kommission empfiehlt eine Erhöhung des Mindestlohns in mehreren Schritten auf 10,45 Euro zum 01.07.2022.

Die Erhöhungen alle halbe Jahre:

• zum 01.01.2021: 9,50 Euro
• zum 01.07.2021: 9,60 Euro
• zum 01.01.2022: 9,82 Euro
• zum 01.07.2022: 10,45 Euro.

12 Euro angemessen

Bereits Ende 2018 schrieb Finanzminister Olaf Scholz in der Bild-Zeitung: „Ich finde, dass 12 Euro Mindestlohn angemessen sind. Am Lohn sollten Unternehmen nicht sparen.“ Im Laufe des vergangenen Jahres häuften sich die Stimmen, die diese Zielsetzung unterstützten. Die gesellschaftliche Zustimmung zu einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro und darüber hinaus war sehr hoch.

Im Zeichen der Pandemie

Die Beschlussfassung der Mindestlohnkomission fällt in diesem Jahr in eine Zeit großer Unsicherheit angesichts der Corona – Pandemie und deren wirtschaftlichen Folgen. Für das Gesamtjahr 2020 wird gesamtwirtschaftlich eine deutliche Rezession erwartet, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Branchen gibt. Für das Jahr 2021 gehen die aktuellen Prognosen von einer wirtschaftlichen Erholung aus. Ab 2022 ist eine Rückkehr auf das Niveau des Bruttoinlandsprodukts von vor der Pandemie zu erwarten.

Senkung oder…

In der Corona-Krise wurden die niedrigen Verdienste in einigen „systemrelevanten“ Berufen kritisiert und dort eine grundsätzliche Erhöhung gefordert. Der wirtschaftliche Einbruch gab allerdings den Kritikern einer stärkeren Mindestlohnanhebung in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wieder Auftrieb. Die Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Energie der CDU/CSU im Bundestag plädierte sogar dafür, den Mindestlohn in Deutschland zu senken oder ihn wenigstens nicht zu erhöhen.

kräftiger Anstieg?

Im Gegenzug argumentiert die Böckler-Stiftung, mit einer kräftigen Erhöhung könne die private Nachfrage in der Corona-Krise stabilisiert werden. Mittelfristig sei eine Anhebung auf einen Wert von 60 Prozent des Medianlohns notwendig. Damit ließe sich eine nachhaltige Reduzierung des Niedriglohnsektors und die Etablierung existenzsichernder Löhne erreichen. 

Anpassung alle 6 Monate

Der Umstieg auf eine halbjährliche Anpassung des Mindestlohnes, den die Kommission mit ihrem neuen Beschluss vorgenommen hat, zeigt, dass sie das starre und vergleichsweise unflexible Modell einer zweijährigen Anpassung in zwischen aufgegeben hat.

Tariflöhne stiegen stärker

Für einen Zeitraum von sechs Jahren, seit Einführung des Mindestlohns ergibt sich eine Steigerung des Mindestlohns um 10 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Tarifindex um gut 14 Prozent. So gab es in den ersten zwei Jahren keine Anpassung des Mindestlohns, während die Tariflöhne deutlich stiegen. 

Evaluation in diesem Jahr

Die Bundesregierung wird wahrscheinlich den Kommissionsbeschluss so umsetzen. Die Hoffnungen durch einen politischen Eingriff auf 12 Euro zu kommen sind vergeblich. Das Thema Mindestlohn wird die Politik aber weiter beschäftigen. Laut Mindestlohngesetz steht im Jahr 2020 eine Überprüfung desr gesetzlichen Regelungen an. Die Bundesregierung wird spätestens zum Jahresende einen Bericht vorlegen.

Quellen: Mindestlohn-Kommission, ZEIT, Spiegel, Hans-Böckler Stiftung, Reinhard Bispinck in Gegenblende (DGB)

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Konjunkturpaket – Steuern, Kinderbonus

Bundestag und Bundesrat haben am 29.06.2020 grünes Licht für das Corona-Konjunkturpaket gegeben. Mit dem steuerlichen Maßnahmenpaket soll möglichst rasch der Konsum und damit die Binnenwirtschaft in der Corona-Krise angekurbelt werden. Es enthält unter anderem die befristete Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 Prozent ab dem 01.07.2020 und einen einmaligen Kinderbonus von 300 Euro.  Es kann schon am 1. Juli 2020 in Kraft treten.

Befristete Mehrwertsteuersenkung

§ 28 Absatz 1 bis 3 UStG
Um möglichst rasch den Konsum und damit die Binnenwirtschaft anzukurbeln, wird die Mehrwertsteuer ab 1. Juli 2020 für sechs Monate gesenkt: von 19 auf 16 Prozent bzw. von sieben auf fünf Prozent. Die reduzierten Sätze gelten bis zum 31. Dezember 2020. Tabakerzeugnisse sind von der befristeten Senkung der Umsatzsteuer übrigens ausgenommen.

Hilfen für Unternehmen

Unternehmen dürfen ihre Verluste besser mit Gewinnen aus den Vorjahren verrechnen: der steuerliche Verlustrücktrag erhöht sich für 2020 und 2021 auf fünf Millionen Euro bzw. zehn Millionen Euro bei Zusammenveranlagung. Zudem lassen sich Betriebsgüter bis Ende 2021 besser abschreiben, damit Unternehmen zeitnah investieren und Anschaffungen nicht aufschieben.

Entlastung für Alleinerziehende

§ 24b Absatz 2 Satz 3 EStG
Auf Grund der eingeschränkten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder in Zeiten der Corona-Pandemie und der für Alleinerziehende damit verbundenen besonderen Herausforderungen steigt der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in den Jahren 2020 und 2021 von derzeit 1.908 Euro auf 4.008 Euro jährlich. Der Erhöhungsbetrag gemäß § 24b Absatz 2 Satz 2 EStG pro weiterem Kind in Höhe von 240 Euro bleibt unverändert.

Kinderbonus

§ 66 Absatz 1 Satz 2 bis 4 EStG und § 6 Absatz 3 BKGG
Eltern erhalten für jedes kindergeldberechtigte Kind einen einmaligen Kinderbonus von 300 Euro. Dieser Bonus wird mit dem steuerlichen Kinderfreibetrag vergleichbar dem Kindergeld verrechnet. Er wird nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Zudem sollen die Einmalbeträge die Unterhaltsleistung nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz nicht mindern.

Aufgrund dieser „Verrechnung“ profitieren Familien mit einem Kind und einem zu versteuernden Jahreseinkommen ab ca. 90.000 Euro nicht vom Kinderbonus, da ab diesem Einkommen der einkommensteuerrechtliche Kinderfreibetrag günstiger ist, als das um den Bonus erhöhte Kindergeld. Diese „Günstigerprüfung“ wird vom Finanzamt unaufgefordert durchgeführt. Etwaig ausgezahlter Kinderbonus wird dann entsprechend beim Kinderfreibetrag wieder abgezogen.

Der Kinderbonus wird in zwei Raten ausgezahlt:

  • 200 Euro im September 2020
  • 100 Euro im Oktober 2020.

Ein Anspruch in Höhe der Einmalbeträge von insgesamt 300 Euro für das Kalenderjahr 2020 besteht auch für ein Kind, für das nicht für den Monat September 2020, jedoch für mindestens einen anderen Kalendermonat im Kalenderjahr 2020 ein Anspruch auf Kindergeld besteht. Hier geht es also um Kinder, die nach dem September geboren werden, oder für die der Kindergeldanspruch vor September endet. Die Auszahlung des Kinderbonus erfolgt in diesen Fällen aber nicht zwingend im September und Oktober 2020 und nicht zwingend in Teilbeträgen.

Quellen: Bundesrat, Bundestag

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Konjunkturpaket – Umsetzung

AM 3.6.2020 kündigte die Bundesregierung ein milliardenschweres Konjunkturpaket an. In der kommenden Woche sollen es in Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Am Montag geht es unter anderem um die Steuerentlastungen, Kinderbonus und den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, die der Bundesrat noch am gleichen Tag in einer Sondersitzung absegnen wird, damit die Änderungen pünktlich zum 1. Juli in Kraft treten können.

Das Bundeskabinett hat inzwischen mehrere arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen aus dem Konjunkturpaket verabschiedet.

Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung verlängert

Der Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, der Hilfe zum Lebensunterhalt und zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie zur existenzsichernden Leistung nach dem Bundesversorgungsgesetz wurde bereits mit dem Sozialschutz-Paket I erleichtert. Ursprünglich waren diese Regelungen bis 30. Juni 2020 begrenzt. Doch die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind weiterhin erheblich. Deshalb hat das Bundeskabinett heute die entsprechenden Regelungen bis zum 30. September 2020 verlängert.

Die Erleichterungen in der Vereinfachter-Zugang-Verlängerungsverordnung (VZVV) betreffen insbesondere die befristete Vereinfachung der Vermögensprüfung, die befristete Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie Vereinfachungen bei der Bewilligung einer vorläufigen Entscheidung. (siehe Corona-Rettungsschirm: Sozialschutz-Paket (1))

Die Erleichterungen in der Vereinfachter-Zugang-Verlängerungsverordnung (VZVV) betreffen

  • die befristete Vereinfachung der Vermögensprüfung,
  • die befristete Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie
  • Vereinfachungen bei der Bewilligung einer vorläufigen Entscheidung.

Anpassungen für das Mittagessen

Auch die vorübergehenden Anpassungen für das Mittagessen sollen bis 30. September 2020 gelten. Dadurch müssen Schülerinnen und Schüler sowie Kinder aus einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege das sonst angebotene Mittagessen nicht gemeinschaftlich einnehmen, wenn die Einrichtung geschlossen ist. (siehe Zweites Sozialschutz-Paket)

Ebenso wurde heute die Regelung bis 30. September 2020 verlängert, dass für Menschen mit Behinderung weiterhin der Mehrbedarf zur Finanzierung der Mittagsverpflegung zur Verfügung steht, auch wenn das Mittagessen pandemiebedingt nicht in Werkstätten für behinderte Menschen und vergleichbaren tagesstrukturierenden Maßnahmen gemeinschaftlich eingenommen werden kann.

Ausgleich von Entgelteinbußen von Werkstattbeschäftigten

Mit der Vierten Verordnung zur Änderung der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung erhalten die Integrationsämter der Länder die Möglichkeit, aus den ihnen zustehenden Mitteln der Ausgleichsabgabe Leistungen an Werkstätten für behinderte Menschen zu erbringen, um Entgelteinbußen der dort beschäftigten Menschen mit Behinderungen auszugleichen. Der Bund leistet dazu einen Beitrag, in dem er den Ländern einmalig im Jahr 2020 10 Prozentpunkte mehr von der Ausgleichsabgabe überlässt.

Begründet wird dies damit, dass die Länder wegen der COVID-19-Pandemie für Einrichtungen der Behindertenhilfe vielfach Betretungsverbote und zum Teil auch Beschäftigungsverbote für Menschen mit Behinderungen nach dem Infektionsschutzgesetz ausgesprochen haben. Daher ist zu erwarten, dass sich diese Maßnahmen negativ auf das Arbeitsergebnis der Werkstätten für behinderte Menschen auswirken. § 12 der Werkstättenverordnung legt fest, dass die Werkstätten mindestens 70 Prozent ihres Arbeitsergebnisses in Form von Entgelten an die Beschäftigten auszahlen müssen. Ein über Monate hinweg niedriges Arbeitsergebnis der Werkstatt kann dazu führen, dass die Höhe der Arbeitsentgelte der Beschäftigten sinkt. Kurzarbeitergeld kommt für Menschen mit Behinderungen, die nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, nicht in Betracht, da die Betroffenen in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen und in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfrei gestellt sind (§ 28 Absatz 1 Nummer 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III)). Gleichwohl sollen Entgelteinbußen der Werkstattbeschäftigten vermieden werden.

Quellen: BMAS, Bundestag, FOKUS-Sozialrecht

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Digitale-Familienleistungen-Gesetz

Das Bundeskabinett hat am 24.6. ein Gesetz auf den Weg gebracht, das es ermöglicht, fünf wichtige Familienleistungen in einem digitalen Kombiantrag zusammenzufassen. In einem Zuge können Eltern künftig die Geburtsurkunde – mit förmlicher Namensfestlegung und Geburtsanzeige – sowie Eltern- und Kindergeld beantragen. In der nächsten Stufe soll auch der Kinderzuschlag dazukommen.

Entscheidendes Element des Gesetzes ist die Regelung des elektronischen Datenaustausches. An vielen Stellen können Behörden notwendige Daten untereinander abrufen. Bürgerinnen und Bürger müssen künftig keine Nachweise mehr selbst einreichen. Die zuständigen Standesämter, Krankenkassen, Elterngeldstellen und die Deutsche Rentenversicherung werden zum elektronischen Datenaustausch auf Wunsch der Eltern ermächtigt. Damit entfallen mehrere Papiernachweispflichten für die Eltern. Doppeleingaben in verschiedenen Anträgen werden durch den digitalen Kombiantrag vermieden.

Umsetzung 2022

Spätestens 2022 sollen die Vorteile bundesweit allen Eltern zur Verfügung stehen. Ein erster Prototyp des Kombiantrags mit elektronischem Datenaustausch, die Anwendung ELFE (Einfach Leistungen für Eltern) soll noch in diesem Jahr in Bremen getestet werden.

Das Gesetz, das mehrere Verwaltungsebenen bei Bund und Ländern berührt, ist arbeitsteilig vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entwickelt worden.

Forderung nach Ergänzungen

Der VDK begrüßt das Gesetz, fordert aber, dass Eltern auch andere Leistungen, wie den Unterhaltsvorschuss oder Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, schnell und unbürokratisch online beantragen können.

Familien müssen sich immer noch jede Leistung, die auch noch miteinander verrechnet werden, bei einer anderen Behörde genehmigen lassen. Der VDK fordert daher, dass

  • eine Stelle alle Familienleistungen gewährt,
  • die Beantragung weitgehend entbürokratisiert wird,
  • barrierefreie Online-Beantragung ermöglicht wird,
  • optional Leichte Sprache verwendet werden kann und
  • weiterhin Beantragung in Papierform möglich bleibt.

Quellen: BMI, VDK

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Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts kommt

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat am 23.06.2020 seinen fast 500 Seiten starken Entwurf für ein Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts veröffentlicht.

Das vorgelegte Gesetzespaket sieht einschließlich aller Folgeanpassungen eine Änderung von 46 Gesetzen vor. Es umfasst insbesondere folgende Vorschläge:

Eigene Regelungsbereiche für Vormundschaftsrecht und Betreuungsrecht

Das Vormundschaftrecht und das Betreuungsrecht werden insgesamt neu strukturiert. Die Vorschriften des geltenden Vormundschaftsrechts zur Vermögenssorge, zu Fürsorge und Aufsicht des Gerichts sowie zum Aufwendungsersatz und zur Vergütung werden ins Betreuungsrecht eingeordnet und, soweit erforderlich, an das Betreuungsrecht angepasst. Damit soll die derzeit – eher komplizierte – Verweistechnik aufgelöst werden.

Wichtige Änderungen im Vormundschaftsrecht

  • Der Mündel soll mit seinen Rechten als Subjekt im Zentrum stehen und die Personensorge gestärkt werden.
  • Die Rechte der Pflegeeltern, bei denen die Mündel aufwachsen, sollen gestärkt werden.
  • Die verschiedenen Vormundschaftstypen werden zu einem Gesamtsystem zusammengefügt, in dem die beruflichen Vormünder einschließlich des Jugendamts als Amtsvormund gleichrangig sind, nur ehrenamtliche Vormünder sind vorrangig zu bestellen.

Wichtige Änderungen im Betreuungsrecht

  • Im Betreuungsrecht sind die Änderungen zentral darauf ausgerichtet, das Selbstbestimmung und die Autonomie unterstützungsbedürftiger Menschen im Vorfeld und innerhalb einer rechtlichen Betreuung im Sinne von Artikel 12 UN-Behindertenrechtskonvention zu stärken.
  • Es wird klarer geregelt, dass die rechtliche Betreuung in erster Linie eine Unterstützung des Betreuten bei der Besorgung seiner Angelegenheiten durch eigenes selbstbestimmtes Handeln gewährleistet und der Betreuer das Mittel der Stellvertretung nur einsetzen darf, soweit es erforderlich ist.
  • Der Vorrang der Wünsche des Betreuten wird als zentraler Maßstab des Betreuungsrechts normiert, der gleichermaßen für das Betreuerhandeln, die Eignung des Betreuers und die Wahrnehmung der gerichtlichen Aufsicht gilt.
  • Die betroffene Person soll zudem in sämtlichen Stadien des Betreuungsverfahrens besser informiert und stärker eingebunden werden, insbesondere in die gerichtliche Entscheidung über das Ob und das Wie der Betreuerbestellung, in die Auswahl des konkreten Betreuers, aber auch in dessen Kontrolle durch das Betreuungsgericht.
  • Zur Verbesserung des Informations- und Kenntnisniveaus bei ehrenamtlichen Betreuern wird die Möglichkeit einer engen Anbindung an einen anerkannten Betreuungsverein im Wege einer Vereinbarung über eine Begleitung und Unterstützung neu eingeführt.
  • Zur Sicherstellung einer einheitlichen Qualität der beruflichen Betreuung soll ein formales Registrierungsverfahren mit persönlichen und fachlichen Mindesteignungsvoraussetzungen für berufliche Betreuer eingeführt werden.
  • Der Entwurf sieht verschiedene Maßnahmen zur effektiveren Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes im Vorfeld der Betreuung, insbesondere an der Schnittstelle zum Sozialrecht, vor.
  • Die Verwaltung des Vermögens durch Betreuer und Vormünder soll modernisiert werden und künftig grundsätzlich bargeldlos erfolgen.
  • Schließlich sollen sich Ehegatten in Angelegenheiten der Gesundheitssorge kraft Gesetzes für die Dauer von drei Monaten gegenseitig vertreten können, wenn ein Ehegatte aufgrund von Bewusstlosigkeit oder einer Krankheit seine Angelegenheiten der Gesundheitssorge vorübergehend rechtlich nicht besorgen kann.

Aus dem Referentenentwurf selbst ergibt sich nicht, wann ein Inkrafttreten der novellierten Vorschriften geplant ist. Da das Modernisierungsvorhaben aber im Koalitionsvertrag festgelegt wurde, bleibt zu hoffen, dass das Gesetzespaket noch in dieser Legislatur – also spätestens bis zum Herbst 2021 – verabschiedet wird. Als nächster Schritt nehmen die Bundeländer und Verbände Stellung.

Auf den Seiten des BMJV kann der Entwurf abgerufen werden: www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_Vormundschaft_Betreuungsrecht.html

Abbildung: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung im Krankenhaus

Wenn geistig oder mehrfachbehinderte Menschen ins Krankenhaus müssen, wegen einer akuten Erkrankungoder einer geplanten Operation, ist es für die Betroffenen oft sehr beängstigend und bedrohlich. Zu krankheitsbedingten Symptomen, wie z.B. Schmerz oder Atemnot, kommt die Unsicherheit einer fremden Umgebung. Nicht nur die Betroffenen, auch ihre Begleiter, Betreuer und Angehörigen sorgen sich, ob die erforderlichen Hilfestellungen, die der behinderte Mensch im Alltag benötigt, auch im Krankenhaus im notwendigen
Umfang erbracht werden können. Dazu kommen oft Verständnisschwierigkeiten oder Kommunikationsbarrieren. Ärzte und Pflegepersonal sind in der Regel nicht geschult für den Umgang mit Patienten mit spezifischen Behinderungen und stehen zudem unter hohem zeitlichen Druck. So bleiben schwierige
Situationen nicht aus. Oft werden nötige Hilfestellungen bei Hygiene oder der Nahrungsaufnahme nicht erbracht. Manchmal können wichtige Untersuchungen oder Behandlungen nicht durchgeführt werden. Patienten werden einfach entlassen, weil das Krankenhauspersonal, mit ihnen nicht zurecht kommt, obwohl es medizinisch nicht geboten wäre.

Vielfach liegt es an den Angehörigen, sich um die Versorgung dieser Menschen im Krankenhaus zu kümmern, ohne dass es in irgendeiner Form vergütet würde. Oder die Mitarbeiter einer betreuten Wohngemeinschaft oder einer besonderen Wohnform übernehmen die Aufgaben mit der Folge, dass den anderen Mitbewohnern dieser Einrichtungen die ihnen zustehende Betreuungszeit verloren geht.

In § 11 Abs. 3 SGB V ist zwar die medizinisch notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson im Krankenhaus geregelt. Es werden in diesem Zusammenhang aber nur die Kosten für Unterkunft und Verpflegung der Begleitperson erstattet.

Leistungen der Sozialen Teilhabe im Krankenhaus?

Ziele der Leistungen sind die Befähigung und Unterstützung der Leistungsberechtigten bei einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum und in ihrem Sozialraum.
Ob der Sozialraum auch das Krankenhaus umfasst, in der eventuell notwendige Behandlungen durchgeführt werden müssen, ist nicht festgelegt. Die aufgezählten Leistungen, die unter Soziale teilhabe fallen, sind nicht abschließend. Andere könnten noch dazu kommen.

Assistenz im Krankenhaus

Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung greifen das Thema Assistenz für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung im Krankenhaus mit hoher Dringlichkeit daher erneut auf. Unabhängig von der Notwendigkeit, die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung nach den Vorgaben des Art. 25 UN-Behindertenrechtskonvention weiterzuentwickeln, ist es dringend erforderlich, für die notwendige Assistenz im Krankenhaus sowie in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen verlässliche rechtliche Grundlagen zu schaffen.

Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung fordern vom Bundesgesetzgeber, die soziale Assistenz für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung im Krankenhaus sowie in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen als Leistung der Eingliederungshilfe durch eine geeignete Regelung im SGB IX sicherzustellen.

Sie schlagen daher vor, die Liste der Leistungen zur sozialen Teilhabe in § 113 Abs. 2 Ziffern 1-9 SGB IX um eine Ziffer 10 „Assistenz im Krankenhaus sowie in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen“ zu ergänzen. Damit wäre ein potenzieller Leistungsanspruch auf Assistenz in diesen Einrichtungen grundsätzlich formuliert.

Persönliches Budget

Bisher gibt es nur im Rahmen des persönlichen Budgets die Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung ihre Helfer im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses selbst einstellen, um ihre Pflege und andere Verrichtungen des täglichen Lebens als Arbeitgeber selbstbestimmt zu organisieren (sog. Persönliche Assistenz, siehe auch § 63b Abs. 4 SGB XII). Damit die kontinuierliche Spezialpflege auch bei einem Krankenhausaufenthalt gesichert ist, dürfen diese Assistenzpflegekräfte auch mit ins Krankenhaus genommen werden, soweit dies aus medizinischen Gründen notwendig ist. Die Kosten für Übernachtung und Verpflegung werden übernommen.

Quellen: Lebenshilfe, Fachverbände für Menschen mit Behinderung, SOLEX

Abbildung: Fotolia_87266480_Subscription_XXL.jpg 

Wann zahlt die Kasse Corona-Tests?

Dies regelt eine Verordnung, die am 9. Juni im Bundesanzeiger erschienen ist,aber rückwirkend zu 14.Mai 2020 gilt. Die Grundlage für die Verordnung hat der Gesetzgeber im Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gelegt. Die Verordnung definiert in welchen Fällen die Krankenkassen für die Tests auf das Coronavirus auch bei Personen, die keine Symptome aufweisen oder nicht GKV versichert sind, aufkommen müssen.

Verordnungsermächtigung im § 20i Absatz 3 SGB V

Durch die Gesetzesänderung wird in Satz 2 eine zusätzliche Verordnungsermächtigung zugunsten des Bundesministeriums für Gesundheit geschaffen. Hiernach kann das BMG ohne Zustimmung des Bundesrates festlegen, dass die gesetzliche Krankenversicherung für ihre Versicherten in Bezug auf bevölkerungsmedizinisch relevante übertragbare Krankheiten Testungen auf eine Infektion oder Immunität leisten muss. Mit dieser Maßnahme wird sichergestellt, dass auch dann Testungen von der GKV übernommen werden, wenn keine Symptome für COVID-19 vorhanden sind. Dies entspricht der verbreiteten Forderung der Wissenschaft nach repräsentativen bevölkerungsmedizinischen Tests.

Zudem besteht durch die Verordnung die Möglichkeit, Personen zu testen, bei denen eine hohe Gefahr besteht, dass sie oder andere Personen in ihrem Umfeld bei einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besonders gefährdet wären. Zu dem Personenkreis der besonders Gefährdeten gehören insbesondere ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Vor allem pflegebedürftige Menschen, die in stationären Pflegeeinrichtungen leben, aber auch solche, die ambulant von einem Pflegedienst gepflegt, betreut oder behandelt werden, sind besonders vulnerabel für schwere Krankheitsverläufe oder Todesfälle, so dass die Verordnung insbesondere diese Klientel umfasst.

Entsprechendes gilt für mögliche Tests auf Immunität in Bezug zu COVID-19, sobald vom Standpunkt der medizinischen Wissenschaft sichergestellt ist, dass eine Immunität gegen COVID-19 für einen längeren Zeitraum möglich und eine gleichzeitige Ansteckungsfähigkeit ausgeschlossen ist.

Auslegungshilfe des BMG

Das Bundesministerium für Gesundheit hat eine Auslegungshilfe zur Verordnung erstellt.
Für die in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtung tätigen Personen sowie der pflegebedürftigen Menschen, die gepflegt, betreut oder behandelt werden, sind vor allem die §§ 1 bis 5 der Verordnung relevant, so dass diese Auslegungshilfe diese Paragraphen erläutert und beispielhaft konkretisiert. Hier eine kurze Zusammenfassung:

§ 1 Anspruch

Die Verordnung regelt den Anspruch auf Leistungen der Labordiagnostik. Es ist vorgesehen, dass in bestimmten Fällen bei vom öffentlichen Gesundheitsdienst veranlassten Testungen zum Nachweis einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 die Leistungen der Labordiagnostik von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden, und zwar sowohl für Versicherte der GKV als auch für Personen, die nicht in der GKV versichert sind.

§ 2 Testungen von Kontaktpersonen

Als Kontaktpersonen gelten

  1. Personen, die insgesamt entweder mindestens 15 Minuten ununterbrochen direkten Kontakt mit einer infizierten Person hatten,
  2. Personen, die im selben Haushalt wie eine infizierte Person leben oder gelebt haben,
  3. Personen, die die Pflege, Betreuung und Behandlung übernehmen, sowie für Personen, die gepflegt, betreut oder behandelt werden.

§ 3 Testungen von Personen im Rahmen der Bekämpfung von Ausbrüchen

Wird z. B. in einer stationären Pflegeeinrichtung ein COVID-19-Fall laborbestätigt diagnostiziert, dann ist bei Testungen nach § 3 kein direkter Kontakt zu dieser laborbestätigt infizierten Person erforderlich, um umfangreiche Testungen in dieser Einrichtung zu veranlassen.

§ 4 Testungen zur Verhütung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2

Testungen sind auch dann in Einrichtungen und Unternehmen, selbst wenn in diesen kein Coronavirus SARS-CoV-2 Fall vorliegt. Ausdrücklich geht es darum, dass bei einem Wechsel in eine neue Versorgungsform Testungen durchgeführt werden. Für in Pflegeeinrichtungen Beschäftigte, die die Pflege, Betreuung, Behandlung oder Unterstützung vulnerabler Personen übernehmen, besteht ebenfalls die Möglichkeit zur Testung.

§ 5 Umfang der Testungen

  • Personen, die Kontakt zu einer laborbestätigt infizierten Person hatten,
  • Personen, die z. B. in einer Einrichtung leben, in der ein laborbestätigt diagnostizierter Fall aufgetreten ist, sowie
  • Personen, die z. B. neu in einer stationären Pflegeeinrichtung aufgenommen werden,

haben Anspruch darauf, bis zu zwei Mal getestet zu werden.

Eine ausführliche Beschreibung und Auslegung der Verordnung findet man auch bei den Fachinfos des  Paritätischen Gesamtverbands.

Außerkrafttreten

Die Verordnung tritt mit Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Trageweite (§5 Abs. 1 Satz 2 IfSG) außer Kraft, ansonsten spätestens am 31.3.2021.

Quellen: Paritätischer Gesamtverband, BMG, FOKUS-Sozialrecht

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Selbstbestimmungsgesetz

Am kommenden Freitag wird im Bundestag der Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes (SelbstBestG) beraten. Der Gesetzentwurf stammt von der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen.

Verfassungswidrig

Das Transsexuellengesetz ist mittlerweile 40 Jahre alt. Seitdem hat das Bundesverfassungsgericht einzelne Vorschriften des Gesetzes bereits sechs Mal für verfassungswidrig erklärt.

  • Beschluss vom 16. März 1982 – 1 BvR 983/81,
  • Beschluss vom 26. Januar 1993 – 1 BvL 38, 40, 43/92,
  • Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvL 3/03,
  • Beschluss vom 18. Juli 2006 – 1 BvL 1 und 12/04,
  • Beschluss vom 27. Mai 2008 – 1 BvL 10/05,
  • Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3295/07.

Auch weitere Vorschriften des TSG stehen verfassungsrechtlich in der Kritik, wie der psycho-pathologisierende Begutachtungszwang.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober 2017 den Gesetzgeber dazu aufgefordert, bis Ende 2018 eine Neuregelung des Personenstandsrechts auf den Weg zu bringen, eine dritte Option beim Geschlechtseintrag einzuführen oder gänzlich auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, 1 BvR 2019/16). In seiner Urteilsbegründung wird die Selbstbestimmung als Persönlichkeitsrecht eines Menschen klar in den Vordergrund gestellt.

Änderung des Personenstandsgesetzes

Mit der Änderung des Personenstandsgesetzes zum 1. Januar 2019 hat der Deutsche Bundestag auf den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes reagiert und eine dritte Option beim Geschlechtseintrag („divers“) geschaffen. Das beschlossene Gesetz wurde allerdings von den Verbänden und der Fachöffentlichkeit als ambitionslos und bevormundend kritisiert.

Geltende Regelung

Das noch geltende Transsexuellengesetz regelt, wie Menschen, die trans sind, in Deutschland ihren Vornamen und Geschlechts­eintrag in ihrer Geburts­urkunde und im Pass ändern können. Dazu ist ein Verfahren bei einem Amtsgericht erforderlich. Gerichte  bestellen zwei unabhängige Gutachter*innen. Die Gutachten sollen belegen, dass die antragstellende Person tatsächlich trans ist und, so will es das Gesetz, dass sich das Geschlecht der Person auch nicht mehr ändern wird.

Begutachtete Personen werden häufig gezwungen, sich auszuziehen, obwohl die Begutachtenden für eine anatomische Begutachtung weder bestellt noch qualifiziert sind. Häufig werden auch Fragen über Unterwäsche, sexuelle Orientierung, gemochte und praktizierte Sexualität oder sexuelle Phantasien gestellt.

Das ganze Verfahren ist durch die verpflichtenden Gutachten nicht nur aufwendig und bürokratisch, sondern auch sehr teuer. Laut Gesetz muss der Antragsteller oder die Antragstellerin sich dem anderen Geschlecht als zugehörig empfinden und seit „mindestens drei Jahren unter dem Zwang“ stehen, „ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“ (§ 8 Transsexuellengesetz). Die weiteren Voraussetzungen des § 8, (Dauerhafte Fortpflanzungsunfähigkeit, die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernder operativer Eingriff) wurden vom BVerfG kassiert.

Operationen an Kindern

Des Weiteren werden in Deutschland an intergeschlechtlichen Kindern immer noch genitalverändernde Operationen vorgenommen, die medizinisch nicht not-wendig sind. Betroffene und ihre Verbände sowie nationale, europäische und internationale Organisationen kritisieren diese Praxis seit Jahren und fordern die Einführung eines Verbots genitalverändernder Operationen im Kindesalter.

Inhalt des Gesetzentwurfs

Das Transsexuellengesetz wird durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt. Im § 45b des Personenstandsgesetzes wird im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klargestellt, dass alle Menschen eine Erklärung zur Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei einem Standesamt abgeben können.

Zudem

  • verbietet das Selbstbestimmungsgesetz genitalverändernde chirurgische Eingriffe bei Kindern,
  • statuiert einen Anspruch auf Achtung des Selbstbestimmungsrechts bei Gesundheitsleistungen,
  • konkretisiert das Offenbarungsverbot und sanktioniert die Verstöße dagegen,
  • verpflichtet Bund, Länder und Kommunen zum Ausbau der bisherigen Beratungsangebote und
  • führt eine Regelung für trans- und intergeschlechtliche Eltern ein.

Somit wird dem Selbstbestimmungsrecht und den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen.

 

Quellen: https://allegutendinge.jetzt, Bundestageu-schwerbehinderung.eu

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Diskussionen um Hartz IV – Überblick

Turnusmäßig alle fünf Jahre, das nächste Mal also 2022, wird durch die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt durchgeführt wird, die Regelbedarfsermittlung für das SGB II und das SGB XII neu bestimmt. Die Debatte um Änderungen am System der Grundsicherung oder gar dessen Abschaffung findet derzeit über alle Parteigrenzen hinweg. Nicht nur wegen der besonderen Erfordernisse während der Corona-Pandemie, werden von den Sozialverbänden, Gewerkschaften und Betroffenen massive Aufstockungen bis hin zum Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert.

Regelsätze zu niedrig

Der Partätische Gesamtverband veröffentlichte das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage. Danach gehen 80 Prozent der Bevölkerung nicht davon aus, dass die in Hartz IV und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vorgesehenen Regelsätze ausreichen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der Betrag, der im Durchschnitt zur Deckung des täglichen Lebensunterhalts eines Erwachsenen (ohne Wohnkosten) als nötig erachtet wird, liegt mit 728 Euro pro Monat um fast 70 Prozent über dem, was einem alleinlebenden Grundsicherungsbezieher derzeit tatsächlich regierungsamtlich zugestanden wird (432 Euro).

Anpassung der Hinzuverdienstregeln

Der Bundesrat setzt sich für attraktivere Hinzuverdienstmöglichkeiten von Hartz IV-Empfängerinnen und Empfänger ein. In einer am 5. Juni 2020 gefassten Entschließung plädiert er dafür, die geltenden Regelungen anzupassen, damit sich eine Beschäftigung für die Betroffenen mehr auszahlt.

Konkret fordert die Länderkammer, die Einkommensanrechnung so zu ändern, dass die Motivation steigt, eine existenzsichernde Beschäftigung aufzunehmen. Wegen der hohen Transferentzugsrate führe das derzeitige System dazu, dass die Beschäftigten im Niedriglohnsektor verharrten. Faktisch finanziere der Staat auf diese Weise mittelbar den Niedriglohnsektor. Tatsächlich müsse es aber darum gehen, dass die Betroffen motiviert werden, ihren Lebensunterhalt unabhängig von Transferleistungen zu bestreiten.

Zu Begründung der Entschließung verweist der Bundesrat auf Zahlen des Münchner-Ifo-Instituts, die die bremsende Wirkung der geltenden Hinzuverdienstregelungen belegen. Danach wird der Verdienst oberhalb eines Freibetrages von 100 Euro bis zur Grenze von 1000 Euro zu 80 Prozent auf die Hartz-IV-Leistung angerechnet. Bei einem Erwerbseinkommen zwischen 1000 und 1200 Euro gilt eine Anrechnungsquote von 90 Prozent. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit bezogen im vergangenen Jahr über eine Million Menschen Hartz-IV und gingen einer Beschäftigung nach.

Erwerbszuschuss

Schon Ende 2018 veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) einen Vorschlag zur Einführung eines Erwerbszuschusses.

Der Reformvorschlag sieht eine umfassende Neugestaltung des Transfersystems vor. Demnach würde ein Erwerbszuschuss eingeführt, der sich bei der Bedürftigkeitsprüfung und der Transferhöhe weitestgehend an den Bedingungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende orientiert. Für Erwerbstätige ab einem bestimmten Erwerbseinkommen würde er Grundsicherung, Wohngeld und Kinderzuschlag ersetzen, aber weiterhin im Bereich der Grundsicherung administriert werden.

Der Transfer zielt darauf ab, mehr Anreize für eine Erwerbstätigkeit mit höheren Wochenarbeitszeiten zu schaffen. Dazu würden die Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen eingeschränkt. Im Gegenzug würde die Transferentzugsrate bei Verdiensten oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze oder bei Bezug des Erwerbzuschusses großzügiger ausgestaltet als bisher.

Konkret ist eine Reduzierung des bisherigen Freibetrags von 100 auf 50 Euro und eine Transferentzugsrate von 90 Prozent für Einkommen größer als 50 und kleiner als 450 Euro (bisher 80 Prozent ab 100 Euro) in der Grundsicherung vorgesehen. Ab einem Bruttoeinkommen von mehr als 450 Euro würde die Transferentzugsrate hingegen nur noch 60 Prozent (bisher 80 bis 90 Prozent) betragen. Die Vollanrechnung (100 Prozent) des Hinzuverdienstes bei hohen Einkommen würde komplett abgeschafft.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist ein Einkommen für alle Menschen,

  • das Existenz sichernd ist und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht,
  • auf das ein individuellen Rechtsanspruch besteht,
  • das ohne Bedürftigkeitsprüfung und
  • ohne Zwang zu Arbeit oder anderen Gegenleistungen

garantiert wird.

Das Grundeinkommen soll dazu beitragen, Armut und soziale Notlagen zu beseitigen, den individuellen Freiheitsspielraum zu vergrößern sowie die Ent­wick­lungs­chancen jedes Einzelnen und die soziale und kulturelle Situation im Gemein­wesen nachhaltig zu verbessern.

Es gibt eine große Bandbreite über die Ausgestaltung und die Rahmenbedingungen eines BGE. Einen Überblick dazu bietet die Webseite Grundeinkommen.de.

Quellen: Paritätischer Gesamtverband, Bundesrat, IAB, grundeinkommen.de

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Wie Herr Scheuer Seenotrettung verhindern will

Eine kleine Änderung in der Schiffssicherheitsverordnung, nämlich das Ersetzen des Begriffs „Freizeit“ durch den Begriff „Erholung“ hat weitreichende Folgen, die Menschenleben kosten kann.
Die dadurch entstehenden Änderungen der Sicherheitsanforderungen für zumindest ein Schiff der Hilfsorganisation „Mission Lifeline“ verhindert das Auslaufen des Schiffes „Rise Above“, das die Organisation Ende 2019 von der Bundeswehr gekauft hat. Man kann also der Bundesregierung nun nicht nur unterlassene Hilfeleistung im Mittelmeer vorwerfen, sondern aktive stattliche Verhinderung der Seenotrettung.

Der Hintergrund

Im April 2019 untersagte die „Berufsgenossenschaft Verkehr“ als zuständige Behörde das Auslaufen der „Mare Liberum“. Sie stützte ihr Verbot auf die vorgesehene Verwendung als Seenotrettungsschiff: Weil das Boot nicht für „Sport- und Freizeitzwecke“ eingesetzt werde, brauche es ein Schiffssicherheitszeugnis. Da Sicherheitszeugnisse nur für Schiffe zu beruflichen Zwecken erforderlich waren, aber nicht für Boote zu „Sport- und Freizeitzwecken“, konnten die Eigner keines vorweisen. Der Verein „Mare Liberum“ klagte gegen die Festhalteverfügung und bekam im September 2019 recht. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg entschied, „Freizeit“ könne „der Erholung von den Anstrengungen beruflicher oder sonstiger Verpflichtungen dienen, ist aber nicht darauf beschränkt. Sie erfasst zudem der persönlichen Entfaltung dienende kommunikative, kulturelle, politische und sportliche Tätigkeiten, was gemeinnützige und humanitäre Tätigkeiten ohne weiteres einschließt“ (OVG Hamburg, Beschluss vom 5.9.2019, 3 Bs 124/19, S.9f.). Das Oberverwaltungsgericht stellte also fest, dass Seenotrettungsmissionen auch mit Sportbooten und Kleinfahrzeugen ohne Sicherheitszeugnis zulässig sind.

In der Freizeit nur Erholung

Das zuständige Bundesverkehrsministerium ersetzte Anfang März in der Schiffssicherheitsverordnung die Formulierung „Sport- und Freizeitzwecke“ durch „Sport- und Erholungszwecke“ (Bundesgesetzblatt I 2020, 412). Daher müssen jetzt Boote, die zwar nicht beruflichen Zwecken, aber auch nicht Sport und Erholung dienen, nun doch ein Schiffssicherheitszeugnis vorlegen, weil nun andere Aktivitäten in der Freizeit, außer Erholung ausgeschlossen sind.

Daraufhin forderte Anfang April die „Berufsgenossenschaft Verkehr“ dem Verein Mission Lifeline ein Schiffssicherheitszeugnis nach dem auch für die Berufsschifffahrt geltenden Recht. Mission Lifeline hat ihr Schiff gerade für die Seeotrettung umgerüstet. Für das neue Sicherheitszeugnis bedarf es nun einer weiteren zeitaufwendigen und teuren Umrüstung.

Das Seeaufgabengesetz

Die Änderung der Schiffssicherheitsverordnung beruht auf der Ermächtigungsgrundlage des § 9 Abs. 1 Nr. 4 des Seeaufgabengesetzes. Danach kann das Bundesverkehrsministerium „zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs, zur Abwehr von Gefahren für die Meeresumwelt, zur Verhütung von der Seeschifffahrt ausgehender schädlicher Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und zur Gewährleistung eines sicheren, effizienten und gefahrlosen Schiffsbetriebs“ Rechtsverordnungen über Sicherheitsanforderungen erlassen. Die Sicherheitsanforderungen dürfen aber nur der Abwehr von Gefahren für die Besatzung, für andere Schiffe oder die Meeresumwelt dienen. Andere Zwecke sind sachfremd und nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Daher ist klar: Das Verkehrsministerium darf Schiffe nicht strenger behandeln, nur weil sie zu humanitären Seenotrettungsmissionen verwendet werden.

Sind Rettungsschiffe generell gefährlicher als Sportboote?

Bisher ist nicht bekannt geworden, dass humanitäre Seenotrettungsboote Seeunfälle verursacht hätten. Der Einsatz der vom Rettungsschiff ablegenden Schlauchboote, die die in Seenot befindlichen Menschen in den seeuntauglichen Rubberboats aufnehmen, ist gefährlich für die Besatzung, nicht aber der Aufenthalt auf dem Rettungsschiff selbst. Das Leben der Geretteten und der Besatzung an Bord eines Rettungsschiffs kann durch Überfüllung gefährdet werden, wenn Malta und Italien ihre Häfen schließen. Das hat aber nichts mit der Schiffssicherheit zu tun.
Dass es Andreas Scheuer gerade um die Verhinderung von Seenotrettung überhaupt geht, beweist die ausdrückliche Einbeziehung bloßer Beobachtungsmissionen in die Neuregelung. Die Verwendung von Booten zu Sportzwecken ist keineswegs generell ungefährlicher. Motorbootrennen, Hochseeangeln oder Segelyachten sind für Besatzungen und andere Schiffe durchaus riskanter als umgebaute Fischkutter oder Torpedofangboote der Bundeswehr wie die „Rise Above“ von Mission Lifeline.

Sterben-Lassen als Flüchtlingspolitik

Während die EU im Rettungsgebiet vor der libyschen Küste ihre eigenen Schiffe zurückzieht, zieht Deutschland zu Hause alle Register, um private Rettungsmissionen mit rechtlichen Tricks zu verhindern.

Laut „Seebrücke„, eine weitere internationale Bewegung zur Rettung Schiffbrüchiger, sind auch die Schiffe von Mare Liberum und Resqship betroffen.
Seebrücke verurteilt dieses offensichtlich politische Manöver und fordert, dass Minister Scheuer sofort dafür sorgt, dass diese Verordnungen zurückgenommen werden und die Hilfsorganisationen ohne Verfolgung und Schikane ihrer lebensrettenden Arbeit nachgehen können.

Quellen: Rechtsanwalt Johannes Lichdi auf Mission Lifeline, Seebrücke

Abbildung  pixabay.com: city-736807_1280.jpg

Gerade ist dazu auch ein Bericht im Spiegel erschienen.