Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am Dienstag, 15. Januar 2019 über eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Gegenstand sind die „Sanktionen“, die der Gesetzgeber im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) geregelt hat. In den §§ 31, 31a, 31b SGB II sind Mitwirkungspflichten von Leistungsberechtigten normiert, bei deren Verletzung das Arbeitslosengeld II in gestufter Höhe über einen starren Zeitraum von jeweils drei Monaten gemindert wird.
Grundgesetzwidrig?
Diese Vorschriften werden schon länger kritisiert, sind Gegenstand von Reformplänen, werden verteidigt von den Befürwortern des Prinzips des „Fördern und Fordern“. Nicht nur das Sozialgericht Gotha hält sie für verfassungswidrig. Nach dessen Ansicht verstoßen sie gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes) , gegen die verfassungsrechtlich garantierte Berufsfreiheit (Art.12 GG) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Artikel 1 GG – Existenzminimum
Der Gesetzgeber habe das Existenzminimum mit der Entscheidung über die Höhe des Regelbedarfs fixiert; dies dürfe nicht unterschritten werden. Im Fall einer Leistungskürzung werde der Bedarf nicht gedeckt, obwohl er sich tatsächlich nicht geändert habe. Damit verletze der Gesetzgeber das Gebot, eine menschenwürdige Existenz jederzeit realistisch zu sichern.
Das Bundesverfassungsgericht hat zweimal Regelungen, die von ihrer gesetzgeberischen Intention her der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums dienen sollten, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt:
- am 9.2.2010 mit der „Regelsatz-Entscheidung“
- am 18.7.2012 mit der „Entscheidung zu Leistungen im AsylbLG“.
Art.12 GG – Berufsfreiheit
Die Regelungen verstießen ferner gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit, denn eine sanktionierte Arbeitspflicht beeinträchtige die Berufswahlfreiheit und sei mittelbarer Arbeitszwang. Bereits die Drohwirkung, die eine Sanktionierungsmöglichkeit nach §§ 31 ff. SGB II entfaltet, ist geeignet, den freien und selbstbestimmten Entscheidungsprozess zu beeinträchtigen. Es ist naheliegend und vom Gesetzgeber gerade beabsichtigt, dass der Leistungsempfänger eine Kürzung der Zahlungen vermeiden will. Das führt dazu, dass er de facto genötigt wird, jede i. S. des Gesetzes zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit gemäß § 16 d SGB II oder ein gemäß § 16 e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, unabhängig davon, ob dies seinem Willen oder seinem Verständnis von guter bzw. akzeptabler Arbeit entspricht. Die Sanktionsandrohung übt auf den Leistungsberechtigten einen faktischen Zwang aus, der einer imperativen Verpflichtung zur Aufnahme einer nicht gewollten Tätigkeit gleichkommt. Besonders augenscheinlich wird dieser Zwang im Fall einer 100 % Sanktion, wenn eine i. S. des SGB II zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit nicht genutzt wird.
Art.2 GG – körperliche Unversehrtheit
Auch stelle sich die Frage, ob der Gesetzgeber gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoße, wenn mit den Sanktionen die Gesundheit der Leistungsberechtigten gefährdet werde. Die gesundheitsschädlichen Folgen, die eine Sanktionierung mit sich bringen kann, ergeben sich aus der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln, fehlender ärztlicher Versorgung, und der Gefährdung durch Obdachlosigkeit. Die Betroffenen werden durch die Sanktionen gezwungen, sich sozial zu isolieren, ungesund zu ernähren und sind durch die Unterschreitung des Existenzminimums in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden derart eingeschränkt, dass ihre körperliche Unversehrtheit und in einzelnen Fällen möglicherweise auch ihr Leben nicht mehr geschützt ist.
Quellen: Bundesverfassungsgericht, Sozialgericht Gotha
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